Essen. Wie über den Holocaust sprechen, wenn die letzten Zeitzeugen verstummen? Der Essener Verein Zweitzeugen erzählt die Überlebensgeschichten weiter.
75 Jahre nach Kriegsende erzählen Holocaust-Überlebende noch ihre Geschichten – das ist aber nicht mehr lange möglich. Ein Gespräch mit Ruth-Anne Damm und Franziska Penski vom Verein Zweitzeugen, der seinen Sitz in Essen hat.
Was ist die Aufgabe der Zweitzeugen?
Damm: Wir wollen, dass jeder die Geschichte der Überlebenden hört, sich auf dieses Thema einlässt und so selbst „Zweitzeuge“ wird. Auch, wenn es schwer ist. Das ist Teil des Dialogs mit den Schülerinnen und Schülern. Das Thema macht traurig und wütend und das ist okay. Es ist an uns, dass sich der Holocaust nicht wiederholt. Denn es droht, ein verstaubtes Thema in den Geschichtsbüchern zu werden . Das darf nie passieren.
Wie ist das Projekt entstanden?
Damm: Dieses Jahr feiern wir unser zehnjähriges Jubiläum. Gegründet haben wir uns im Studium. Den ersten Anstoß gab uns eine Dokumentation über Holocaust-Überlebende , die in Israel leben. Gut ein Drittel von ihnen unter der Armutsgrenze. Das hätten wir nie gedacht. In der Schule wird die NS-Zeit oft nur bis 1945 behandelt. Als wäre es dann vorbei. Wir haben uns gefragt, wie kann man als Überlebende des Holocaust wieder lernen zu vertrauen und zu lieben?
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Daraus entstanden Bildungsworkshops. Was erzählen die Zweitzeugen an den Schulen?
Penski: Wir starten mit der Biografie von Holocaust-Überlebenden im Kindes- oder Jugendalter, suchen gemeinsam Verbindungen zum Alltag der Schüler heute . Verdeutlichen: Das hättet auch ihr oder eure Freunde sein können, die einfach nicht mehr in die Schule kommen.
Damm: Wir erklären, was die NS-Gesetze für Juden im heutigen Alltag bedeuten würden. Dass die Kinder ihre Instrumente abgeben müssten, nicht mehr im Verein Fußball spielen dürften. Sie merken, welche Verbindungen sie zu den Überlebenden haben, ähnliche Hobbys oder Familienkonstellationen. Das erschüttert die Kinder, sie begreifen, was das tatsächlich für die Betroffenen bedeutet hat. Am Ende des Workshops haben die Schülerinnen und Schüler dann die Gelegenheit, den vorgestellten Zeitzeugen einen Brief zu schreiben.
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Inzwischen bieten Sie auch zusammen mit den Lernzentren der Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund und Borussia Mönchengladbach Workshops an.
Damm: Im August sind wir mit Hilfe von der Aktion Mensch gestartet. Wir haben schon immer das Interesse an außerschulischen Lernorten gehabt. 2014 war ich zusammen mit Ultra-Fans bei einer Gedenkstättenfahrt von Borussia Dortmund dabei. Es war beeindruckend, gemeinsam in den Gaskammern zu stehen. Wir haben geweint. Das ist mir im Kopf geblieben. Im Fußball ist Rassismus ein Thema, das kann man nicht herunterspielen. Es ist aber auch ein Volkssport, der Menschen begeistert und eine Rolle einnehmen kann, anders mit Rassismus und Antisemitismus umzugehen . Es melden sich inzwischen auch andere Vereine bei uns.
Wie reagieren die Kinder auf die Überlebensgeschichten?
Damm: Wir merken, dass die Kinder sehr berührt sind, das sehen wir in den Briefen. Je nachdem, welches Päckchen die Kinder selbst zu tragen haben. Die Überlebenden haben dann einen Vorbildcharakter, sie haben das Unvorstellbare durchgemacht und sind noch am Leben. Es ist spannend, welche Aspekte die Kinder da mitnehmen.
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Penski: Ich muss an einen Jungen denken, der nachher sagte, er reagiere jetzt anders auf Witze über Juden. Wir sagen immer: Ihr könnt auch im Kleinen etwas bewegen.
Eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, forderte Björn Höcke. Begegnen Ihnen solche Ansichten aus der rechten Ecke?
Penski: Ich hatte ein, zwei Schülerinnen und Schüler, bei denen habe ich gemerkt, dass es Vorbehalte gibt. Wir bekommen auch mal mit, dass in Haushalten AfD gewählt wird.
Damm: Die Schüler merken, dass das Thema noch aktuell ist, nicht verstaubt. Es wurden nicht alleine Juden verfolgt , sondern auch Roma, Sinti, Widerständlerinnen und Widerständler, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung. Die Schüler merken, dass sie möglicherweise nicht dem gewünschten Bild eines Ariers entsprochen hätten oder Menschen kennen, die zu diesen Gruppen gehört hätten.
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Wie haben Sie sich gefühlt, als Deutsche nach Israel zu gehen und Zeitzeugen um ein Gespräch zu bitten?
Damm: Es ist total schwer. In den Interviews oder an Gedenkorten habe ich mich so geschämt. Das trägt man mit nach Israel. Darüber reden wir an den Schulen. Wir waren damals nicht am Leben und haben keine Verantwortung dafür, was passiert ist. Aber für das, was noch passiert.
Penski: Irgendwo hat man immer dieses Gefühl, wenn man in Israel bei den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ist und Deutsch spricht. Weil man den Überlebenden nicht das Gefühl geben will, Deutsch hören zu müssen. Viele von ihnen wollten nie wieder nach Deutschland zurückkehren. Doch sie nehmen uns schnell unsere Unsicherheit.
Wie haben Sie die Zeitzeugen erlebt, die Sie besuchen durften?
Penski: Es sind so unfassbar liebevolle, großzügige Menschen, denen es wichtig ist, ihre Geschichte zu erzählen. Das ist immer sehr emotional. Von beiden Seiten gibt es große Dankbarkeit für die Begegnung.
Damm: Insgesamt haben wir 37 Überlebende getroffen, leider sind bereits einige verstorben. Wir sind bis heute mit vielen selbst oder ihren Familien in Kontakt. Man muss schon schauen, dass man bei allem, was man hört, nicht den Mut verliert. Ein Satz einer Zeitzeugin ist mir im Kopf geblieben: „Warum beschäftigst du dich mit dem Holocaust? Du bist jung, du musst rausgehen und tanzen.“ Aber wir machen beides. Jeder, der Überlebende trifft, ist dadurch verändert und berührt. Das wollen wir weitergeben.
Wie reagieren die Zeitzeugen auf die Briefe der Kinder?
Penski: Sie sind sehr berührt. Äußern, dass sie nie geglaubt hätten, Briefe wie diese zu empfangen. Eine Zeitzeugin sagte: „Die Kinder sehen mich als Mensch, sie fühlen mit. Es ist das größte Geschenk, das ich im Leben bekommen kann.“
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Wird das Thema NS-Zeit im Privaten noch immer stark verdrängt?
Damm: Man merkt einen Generationsunterschied. In früheren Generationen wurde das Thema oft verdrängt und totgeschwiegen . Da sind wir im Bereich der Erwachsenenbildung. Jüngere Kinder wissen vieles aus den Medien. Und man merkt sofort, ob zuhause darüber gesprochen wurde oder nicht. Die Kinder haben so viele Fragen. Deshalb gehen wir auch in Grundschulen, auch wenn einige das vielleicht zu früh finden .
Wie kann und muss das Erinnern ohne Zeitzeugen weitergehen?
Damm: Das Erinnern als Zweitzeuginnen und Zweitzeugen ist der Schlüssel. Schon jetzt ist es so, dass wir stellvertretend für jene Holocaust-Überlebende stehen, die bereits verstorben sind oder nicht mehr die Kraft haben, ihre Geschichte selbst zu erzählen.
Penski: Ich merke, dass Kinder und Jugendliche in der Arbeit mit den Überlebensgeschichten einen Zugang zum Heute finden. Ich hoffe, dass sie dadurch anders reagieren werden auf Ausgrenzung und Rassismus. Ich sehe darin so viel Potenzial für die Zukunft, nicht nur für die Holocaust-Überlebenden.
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