Voerde. Bürgermeister nimmt im Interview zum Jahreswechsel zu wichtigen Themen Stellung. Neues zum Kraftwerks-Rückbau und bei welcher Frage er ausweicht.
Auf dem Gelände des stillgelegten Kraftwerks, das im Frühjahr 2017 vom Netz genommen wurde, starteten im Sommer 2023 sichtbar die Rückbauarbeiten und mündeten ein halbes Jahr später in den ersten großen Knall. Der Kühlturm wurde dem Erdboden gleichgemacht. Auch weniger spektakuläre, aber nicht minder wichtige Ereignisse prägten in Voerde im abgelaufenen Jahr die Debatten: die Unterbringung von Flüchtlingen oder die umstrittene Ansiedlung eines Logistikparks im Hafen Emmelsum. Alle Themen werden die Verantwortlichen in der Stadt auch 2024 weiter beschäftigen. Bürgermeister Dirk Haarmann schaut im NRZ-Interview voraus und zurück. Die Fragen stellte Redakteurin Petra Keßler.
Herr Haarmann, das spektakulärste und meistbeachtete Ereignis in Voerde war 2023 die Sprengung des Kühlturms auf dem Gelände des stillgelegten Steinkohlekraftwerks. Wie viele Fotos und Videos haben Sie selbst davon gemacht?
Wegen meiner Teilnahme an einer Fernseh-Liveübertragung am Bürgerhaus Möllen konnte ich selbst von der Sprengung leider nur ein kurzes Video drehen. Ein Freund hat für mich ein Drohnenvideo aufgenommen, das ich auf Instagram und Facebook veröffentlicht habe. Zwei Tage vor der Sprengung haben wir vor dem Kühlturm ein Erinnerungsfoto mit den Fraktionsvorsitzenden, stellvertretenden Bürgermeistern und einigen Ausschussvorsitzenden gemacht. Erfreulicherweise
haben die Menschen unzählige Fotos und Videos aus den unterschiedlichsten Perspektiven ins Netz gestellt.
Meinen Sie oder wissen Sie gar schon, dass auch weitere Bauriesen auf der Fläche wie etwa die Schornsteine auf die gleiche Art und Weise von der Bildfläche verschwinden werden?
Erste Gespräche zur Sprengvorbereitung des Kamins der Entschwefelungsanlage (das ist der nördlichste Turm) laufen bereits. Details inklusive Terminierung stehen allerdings noch nicht fest.
Die Bundesregierung nimmt bis 2027 im Klima- und Transformationsfonds (KTF) Kürzungen um 45 Milliarden Euro vor, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Finanzierung des KTF gekippt hatte. Mit Geld aus diesem nun verkleinerten Topf sollen auch über Förderprogramme Projekte der Energiewende vorangebracht werden. Inwiefern wird sich dies Ihrer Einschätzung nach auf den Umbau des ausgedienten Kraftwerksgeländes zu einem Standort, an dem in industriellem Umfang grüner Wasserstoff erzeugt werden kann, direkt auswirken?
Zunächst einmal bin ich froh, dass sechseinhalb Jahre nach der Stilllegung nun endlich mit dem Rückbau begonnen wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die wichtigsten Transformationsprojekte zur Dekarbonisierung der Energieversorgung und damit unter anderem zur Sicherung des Industriestandortes Deutschland gekippt werden. Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung in Ergänzung zu vorhandenen EU-Förderprogrammen neue Fördertöpfe entwickeln und darüber hinaus Rahmenbedingungen schaffen wird, die die erheblichen Investitionen in angemessener Weise unterstützen.
Sehen Sie das Vorhaben von RWE an der Stelle auf der Kippe stehen? Der Energiekonzern hatte im August dieses Jahres gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärt, bis auf Weiteres keine klimafreundlichen Wasserstoff-Projekte anstoßen zu wollen, wenn es dafür keine Hilfen vom Staat gebe.
Der Standort Voerde ist nach Aussage von RWE – so meine Kenntnis – der strategisch günstigste Standort für grünen Wasserstoff. Wenn also dieses Projekt nicht realisiert werden sollte, sehe ich an keiner anderen Stelle in Deutschland ähnliche Projekte in der Realisierung. Davon ist meines Erachtens nicht auszugehen.
Ein großes Thema in Voerde war im abgelaufenen Jahr auch die Unterbringung von Flüchtlingen. Auf scharfe Kritik stößt bei Bürgern der Plan, im Außenbereich von Spellen eine große Unterkunft mit 152 Plätzen zu schaffen. Warum kann die Stadt an der Stelle nicht deutlich kleiner planen, sprich, die Menschen auf mehrere Standorte verteilen?
Grundsätzlich wäre dies möglich. Es wäre aber mit erheblich höheren Kosten für die Erschließung und Herrichtung der Flächen verbunden und bei alternativen Standorten ist auch bei einer geringeren Größe mit ähnlichen Diskussionen zu rechnen. Im Vorfeld der Entscheidung wurden – in Anlehnung an die Grundsatzentscheidung in 2016, die in der Rangfolge die Standorte Schwanenstraße, Scheltheide und Feuerwache Spellen priorisiert hatte – die wenigen Standortalternativen gesichtet und bewertet. Der Stadtrat ist einstimmig und ohne Enthaltungen dem Vorschlag der Verwaltung gefolgt. Dieser Ausdruck der Geschlossenheit ist in der anstehenden Debatte ein wichtiges Signal.
Inzwischen formiert sich Widerstand gegen das Vorhaben. Es wurde eine Online-Petition gestartet. Wie bewerten Sie dies?
Ich kann die Sorgen der Menschen verstehen, halte aber eine Petition für den falschen Weg. Wir haben angekündigt, dass wir zu jedem neuen Standort – wie in der Vergangenheit – in einen umfassenden Dialog mit der Bürgerschaft eintreten und uns gemeinsam mit der Caritas den Fragen, Sorgen und Ängsten der Menschen stellen werden. Auf diesem Weg ist eher gewährleistet, dass wir mit den direkt Betroffenen in den Dialog treten können und nicht mit einer teils anonymen Masse im
Netz konfrontiert sind, die teilweise ohne eine direkte Betroffenheit Ängste schürt und wenig faktenbasiert argumentiert. In diesem Dialog werden wir die Ausgangssituation, die gesetzliche Aufgabe und das Betreuungskonzept umfassend vorstellen.
Die Unterbringung von Geflüchteten ist eine Herausforderung, vor der nicht nur Voerde in finanzieller und infrastruktureller Hinsicht steht. Im Folgenden geht es um die Integration. Diese und weitere Aufgaben hat die Stadt in die Hand der Caritas gelegt. Eine hohe Verantwortung, die da weitergegeben wird. Kann ein Verband das alleine stemmen?
Wir arbeiten seit Jahren partnerschaftlich mit der Caritas zusammen und konnten uns ein gutes Bild von der Leistungsfähigkeit der Caritas machen, die diese Aufgaben ja auch bereits bei der Betreuung der Landeseinrichtung im ehemaligen Baumarkt an der Grenzstraße übernommen hatte. Zudem hat die Caritas diese Aufgabe bereits in anderen Kommunen übernommen und leistet dort gute Arbeit. Selbstverständlich wird es einen intensiven Austausch mit der Stadt geben, zumal wir ja für alle Belange der Leistungsgewährung zuständig bleiben. Neben der guten Betreuung vor Ort sind die entscheidenden Gelingensfaktoren für eine Integration die Möglichkeit der schnellen Arbeitsaufnahme und ausreichende Kapazitäten für Sprach- und Integrationskurse. Hier stehen weiterhin Bund und Land in der Pflicht.
Wie ist es derzeit um die Finanzierung der Wohnraumversorgung und Betreuung von Geflüchteten bestellt? Wie hoch ist die Summe in etwa, die nicht durch Bundesmittel gedeckt ist?
Im letzten Bund-/Länder-Kompromiss wurden die Pro-Kopf-Pauschalen auf 7.500 Euro je Asylsuchendem angehoben. Daneben erhielten die Kommunen Pauschalzuweisungen. Damit lassen sich allenfalls die laufenden Betreuungsleistungen finanzieren, keinesfalls aber die Kosten der Errichtung von neuen Unterbringungskapazitäten. Hierfür fordere ich seit Jahren eine vollständige Übernahme der Vorhaltekosten – inzwischen auch eine Forderung der kommunalen Spitzenverbände. Leider haben bisher weder das Land NRW noch der Bund diese Forderung erfüllt. Den nicht gedeckten Anteil können wir erst konkretisieren, wenn die Ergebnisse der Ausschreibung für die Wohncontainer feststehen.
Eine wichtige Entscheidung wird 2024 sehr wahrscheinlich jene über die Ansiedlung des Logistikparks Emmelsum sein. Wie bewerten Sie das aktuelle Stimmungsbild innerhalb der Politik dazu, wird es im Stadtrat eine Mehrheit für dieses Vorhaben geben?
Ich kann und möchte Entscheidungen des Stadtrates nicht im Vorhinein abschätzen. In der Sache kann ich betonen, dass der zur Diskussion stehende Vorschlag zur Nutzung der Fläche den Belangen der Bevölkerung in weiten Teilen entgegenkommt. Mir ist aber auch klar, dass er den Erwartungen der Befürworter der sogenannten „Null-Lösung“ nicht gerecht werden kann. Am Ende muss der Stadtrat unter Abwägung aller Aspekte, also zum Beispiel auch der der Wirtschaftsförderung und juristischen Risiken, eine Entscheidung treffen.
Wenn im Falle eines positiven Votums durch den Stadtrat die Kritiker den Klageweg gehen oder ein Bürgerbegehren anstrengen, wird sich die Realisierung wahrscheinlich deutlich verzögern. Wie schätzen Sie ein solches Szenario ein? Und: Gibt es dazu bereits Aussagen des Investors, der es ja schon als gesichert gewähnt hatte, im Sommer 2023 auf dem Gelände starten zu können?
Der nächste Schritt im Bauleitplanverfahren ist zunächst einmal die Offenlage, in der die Bürgerinnen und Bürger noch einmal alle Aspekte vorbringen können. Erst im Rahmen der dann folgenden Abwägung wird der Rat über einen Satzungsbeschluss beraten. Diese Schritte sollten wir vor einer Einschätzung der weiteren Entwicklung abwarten.
Was sind aus Ihrer Sicht neben der Unterbringung von Flüchtlingen die größten Herausforderungen, die 2024 und in den Folgejahren von der Stadt zu stemmen sind?
Die anstehende Abarbeitung der Prioritätenliste für Investitions- und Sanierungsmaßnahmen in den Bereichen Gebäude, Straßen und Kanalisation ist eine Mammutaufgabe, die es bei wenig Fachpersonal und knappen Finanzmitteln zu bewältigen gilt. Kita-, Schul- und OGS-Ausbau müssen als erste Maßnahmen realisiert werden. Die Finanzausstattung der Kommunen für ihre Pflichtaufgaben entwickelt sich bei stark steigenden Kosten dramatisch nach unten. Landesweit werden die Kommunen in die Haushaltssicherung rutschen, wenn hier nicht grundlegend gegengesteuert wird. Die Kommunen stellt das rein logisch vor unlösbare Herausforderungen. Zusätzlich muss die Kommunalverwaltung als Arbeitgeber attraktiver werden und die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht in einem hohen Maße digitalisierte und serviceorientierte Dienstleistungen. Das wird weitere Investitionen erfordern!
Die Kommunalwahl in NRW, die sehr zeitnah zur Bundestagswahl im Herbst 2025 stattfindet, wirft schon im nächsten Jahr ihre Schatten voraus: Wird Ihnen angesichts der jüngsten Wahlergebnisse in einigen Bundesländern mit Erstarken der AfD und der Umfrageergebnisse angst und bange?
Nach jetziger Kenntnis wird die Kommunalwahl knapp vor der Bundestagswahl stattfinden und die Stichwahlen werden mit der Bundestagswahl zusammengelegt. Natürlich wird auch eine Kommunalwahl vom Bundes- und auch Landestrend beeinflusst. Die
Ergebnisse vorangegangener Kommunalwahlen zeigen aber deutlich, dass immer auch sehr stark die lokalen Themen im Vordergrund stehen und die Arbeit der bis dahin handelnden Fraktionen und Personen beurteilt wird. Ich hoffe sehr, dass es den verantwortlichen Parteien in der Ampelkoalition, aber auch der CDU als demokratieorientierte Opposition im Bundestag besser als bisher gelingen wird, die Menschen davon zu überzeugen, dass Protestwahlen eines demokratiefeindlichen Lagers, das inhaltlich gar keine Lösungen bietet, sondern nur mit der Verunsicherung und Unzufriedenheit der Menschen spielt, am
Ende die schlechtere Wahl ist.
Werden Sie bei der SPD wieder Ihren Hut für die Bürgermeisterwahl in den Ring werfen oder wollen Sie nicht zum dritten Mal kandidieren?
Diese Frage werde ich zu gegebener Zeit beantworten.
Wenn Sie auf das nächste Jahr blicken: Was wünschen Sie Ihrer Stadt am meisten?
Ich wünsche mir, dass sich die Menschen in unserer Stadt wohlfühlen, dass sie sich als Teil des Ganzen sehen, vom Gemeinwohl profitieren und dass diejenigen, die es können, sich für das Gemeinwohl engagieren. Dies sind die besten Voraussetzungen dafür, dass wir den Veränderungen, die wir nicht aufhalten können, offen begegnen und sie im Kontext betrachten und bewerten. Und natürlich wünsche ich, dass die Verwaltung endlich für ihre Aufgaben angemessen finanziell ausgestattet wird, denn die Leistungsfähigkeit einer Kommune ist eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen.