Voerde. Innerhalb von Sekunden war der Kühlturm auf dem alten Kraftwerksgelände in Voerde dem Erdboden gleichgemacht. Über Tausend Menschen schauten zu
Ein Raunen geht über die große Wiese an der Sportanlage in Möllen. Der „Dicke“, wie Dörte Kratz ihn fast liebevoll nennt, kippt erst leicht zur Seite und stürzt dann binnen Sekunden krachend in sich zusammen. Der Kühlturm des 2017 stillgelegten Steinkohlekraftwerks an der Frankfurter Straße in Möllen ist mehr als 40 Jahre nach seinem Bau Geschichte.
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Hier und da ist von den Menschen, die sich in Scharen auf der Sportanlage an der Rahmstraße versammelt haben, Applaus zu hören. „Das hat sie super gemacht“, kommentiert Ingrid Schauland die Arbeit von Sprengingenieurin Ulrike Matthes von der Thüringer Spreng GmbH und ihrem Team. Die Frau, die den „Dicken“ mit ihrer Mannschaft mit etwa 240 Kilo Sprengstoff –verteilt auf 1050 Zünder – zum Kippen gebracht hat, wird anderthalb Stunden später von einer „Punktlandung“ sprechen.
Kühlturm-Abrissparty mit Würstchen bei Glückauf Möllen
Glückauf Möllen hat zur „Abrissparty“ auf die Anlage an der Rahmstraße geladen und den Grill angeschmissen. Bratwurst, heiße und kalte Getränke sind im Angebot –und freie Sicht auf den da noch stehenden Koloss. Es ist kurz nach 10 Uhr, knapp eine Stunde noch bis zur Sprengung. Immer mehr Menschen strömen auf die Wiese, darunter sind auch viele Familien mit Kindern. Andere haben sich die Rahmstraße weiter Richtung Osten als Beobachtungsstandort ausgesucht, sie stehen dort, wo die Fahrbahn wegen der darunter verlaufenden Bahnstrecke eine steile Steigung nimmt. Dort stehen die Menschen ebenfalls in Massen.
Beidseits der Straße parken Autos, in dem Moment, als der Kühlturm zusammenkracht, stehen einige Schaulustige auf der Fahrbahn, halten die Handys hoch. Andere scheint das Großereignis dagegen nicht zu kümmern. Sie sind gerade mit dem Auto unterwegs.
Zur Sprengung läuft „Time to say goodbye“ auf dem Balkon
Bei Andre Stepper, der in Voerde zwei Edeka-Märkte als selbstständiger Kaufmann betreibt, läuft gerade ein bekanntes Abschiedslied: „Time to say goodbye“. Der 39-Jährige wohnt im benachbarten Eppinhoven, er schaut sich das Spektakel mit 20 Gästen von einem der beiden heimischen Balkone an. Von dort bietet sich ihm ein unverstellter Blick über den Rhein auf das ausgediente Steinkohlekraftwerk. „Auf dem Deich ist es rappelvoll“, sagt er. Es ist eine weitere Stelle, von der aus die Menschen bei Bilderbuchwetter den „Sturz“ des Riesen verfolgen, der an seiner breitesten Stelle einen Durchmesser von 120 Metern hatte. Deichgräf und Landwirt Ingo Hülser aus Voerde hat sich einige Kilometer weiter nördlich auf heimischem Terrain am Rhein postiert, um das Schauspiel zu verfolgen.
Zukunft des Kraftwerkgeländes mit Wasserstoff?
Familie Mühle aus Eppinghoven wollte erst zur Emschermündung, doch sie entscheidet sich für die Sportanlage an der Rahmstraße in Möllen. Das Argument, das zieht: „Dort gibt es eine Versorgung.“ Für Claudia Mühle ist das Gelände mit den alten Kraftwerksbauten seit dem Aus vor mehr als sechs Jahren „ein absoluter Unort“. Sie findet es gut, dass mit der Sprengung des Kühlturms in einem ersten Schritt und den anstehenden Rückbauten von Schornsteinen, Kesselhäusern & Co. der Weg für etwas Neues auf der rund 60 Hektar großen Fläche freigemacht wird: Die Eigentümerin RWE plant dort „den Umbau zu einem Standort, an dem in industriellen Umfang grüner Wasserstoff erzeugt werden kann. Sofern es die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zulassen, ist auch der Bau eines wasserstofffähigen Gaskraftwerks am Standort Voerde denkbar“, erklärt Olaf Winter, Sprecher des in Essen ansässigen Energiekonzerns.
Aber es liegt auch ganz viel Wehmut in der Luft. Manchen kommen die Tränen. Für viele ist das Kraftwerk, ist der Kühlturm eine Landmarke, ein Stück Kindheitserinnerung. Zum Beispiel für Dörte Kratz, die gerade mit ihrem Mann Heinz und Enkel Finn (6) auf den Augenblick wartet, dass der „Dicke“ für immer von der Bildfläche verschwindet. „Der geht mit Stolz“, ist sie sich sicher, dass der Kühlturm wie geplant fallen wird. Heinz Jonda (61) schaut sich die Sprengung einige hundert Meter von der Sportanlage entfernt an der Schlesierstraße an. Für ihn ist das Ereignis noch einmal von ganz anderer Bedeutung: Jonda hat 30 Jahre im Kraftwerk in Möllen gearbeitet, war vier Jahre Betriebsratsvorsitzender und hat die Schließung begleitet. „Ich hatte Gänsehaut“, sagt er nach dem Fall des Riesen. Aber der Rückbau sei „unvermeidlich. Hauptsache ist, dass jetzt etwas Neues kommt.“
Kühlturm hinterlässt 25.000 Tonnen Bauschutt
Dörte Kratz soll Recht behalten: Pünktlich um 11 Uhr ist der Koloss „sicher zu Boden“ gebracht, bilanziert RWE-Sprecher Winter. Am Ende haben ihm zufolge über 1000 Menschen aus sicherer Entfernung zugeschaut. Sprengingenieurin Ulrike Matthes zeigt sich am Ende der Sprengung, die um 12.15 Uhr für offiziell beendet erklärt wurde, hochzufrieden: „Der Kühlturm ist so ‚runtergekommen, wie wir es lange geplant haben. Alle Projektbeteiligten haben hier eine super Arbeit gemacht. Einen ganz großen Dank auch an mein Team.“ 240 Kilo Sprengstoff und 1050 Zünder – das sei relativ viel für eine Abbruchsprengung. Die Vorbereitungen sei eine nicht so leichte Aufgabe gewesen. Man müsse die sehr kalten Temperaturen in den vergangenen Tagen bedenken. „Wir haben kaum Streuflug gehabt. Die Sprengbereiche wurden alle abgedeckt. Es hat alles super gehalten. Man sieht es auch auf den Bildern“, erklärte Ulrike Matthes weiter, von der nach der geglückten Sprengung eine gewisse Anspannung fiel.
Von der einstigen Existenz des „Dicken“ ist auf dem Kraftwerksgelände nichts mehr zu sehen. Rund 25.000 Tonnen Bauschutt sind davon übrig geblieben. Das Material wird nun zerkleinert, sortiert und über einen Zeitraum von etwa drei Monaten per Lkw abtransportiert. (mit aha)
Bevor es am Vormittag des ersten Advent zum großen Knall auf dem Kraftwerksgelände kommen kann, galt es, eine Reihe von Vorbereitungen zu treffen. Dazu gehört die Herstellung von Bohrlöchern, in denen der Sprengstoff mit dem jeweiligen Zünder platziert wird. Die Sprengbereiche befanden sich in der Kühlturmschale und den Stützen des 165 Meter hohen Kolosses. Auch wurden in die Turmwand zwei Fall- und drei Vertikalschlitze gefräst. Sie sollten den Koloss strukturell schwächen, sprich, dafür Sorge tragen, dass er bei der Sprengung, wie beabsichtigt, zuerst leicht kippt und dann kollabiert. Was ja am Ende auch gelang.
Eine der größten Herausforderungen sind die Wetterverhältnisse
Die größte Herausforderung bei der Sprengung eines Kühlturms seien die Wetterverhältnisse (Wind) aufgrund der Arbeiten in Höhen. Eine weitere ist die „Sicherstellung des Absperrbereiches“, erklärt Sprengingenieurin Ulrike Matthes. Dass die Sperrzone nicht sofort nach dem Sturz des Kühlturms wieder aufgehoben werden und der Verkehr dort nicht gleich wieder rollen konnte, lag daran, dass erst sichergestellt werden musste, dass die Sprengung so verlaufen ist wie geplant. Deshalb wurde das sogenannte „Sprenghaufwerk“ vorher begangen, erläutert Matthes. Vor zwei Jahren hat sie den Sturz des zweiten Weißen Riesen, eines Hochhauses in Duisburg-Hochheide, verantwortet.
Lieselotte Koshofer, die sich die Kühlturm-Sprengung von der Wiese auf der Sportanlage in Möllen aus angeschaut hat, wundert sich: „Ich hätte nicht erwartet, dass es so schnell geht. Es hat auch nicht so viel gestaubt, wie ich gedacht habe“, sagt sie. Die 71-Jährige ist nicht die Einzige, die das so sieht. Nicole Johann hätte sich den Abgang des Kolosses „noch voluminöser, noch spektakulärer vorgestellt“, sagt die Erste und Technische Beigeordnete der Stadt. Und sie ist ebenfalls davon ausgegangen, dass sich beim Fall des Kühlturms deutlich mehr Staub entwickelt. Der zieht nach der Sprengung in Richtung Norden, wohin der Koloss, wie geplant, leicht gekippt ist. Der gesamte Ablauf zeige, „wie sehr doch die Rädchen ineinander greifen“, das Ganze sei fachlich kompetent vorbereitet worden. „Das Ergebnis hat man heute gesehen“, resümiert Johann.
„Was in Jahren aufgebaut wurde, war in Sekunden weg“, bringt Bürgermeister Dirk Haarmann seinen Eindruck vom blitzschnellen Sturz des Kolosses auf den Punkt. „Das war eine mustergültige Sprengung. Auch der Verwaltungschef hätte mit einer wesentlich größeren Staubentwicklung gerechnet. An das neue Bild müsse er sich erst noch gewöhnen. Er selbst habe seit seinem Zuzug nach Voerde 30 Jahre mit dieser beeindruckenden Landmarke gelebt und den Bau der Entschwefelungsanlage aufmerksam verfolgt. „Da Teile meiner Familie als gebürtige Voerder sozusagen im Schatten der wachsenden Kraftwerksanlage ihre Kindheit verbracht haben, besteht zudem auch eine ,familiäre Bindung‘ zu dieser Epoche“, erklärt Haarmann. Die Sprengung des Kühlturms sieht er als ersten wichtigen Schritt, der gemacht werde: „Jetzt wird der Wandel auch sichtbar. Wir freuen uns auf die Schritte, die nun kommen.“ Die Türen „in ein neues Energiezeitalter würden geöffnet“.
Ein Vorschlag fürs nächste Mal
Nicht alle haben den richtigen Moment für das private Handy-Video abgepasst, das den Sturz des Riesen zeigt. Der Vergrämungsschuss kurz vorher, mit dem Tiere aus dem unmittelbaren Umfeld des Kühlturms verscheucht werden sollen, hat einige irritiert. „Ich hätte es gerne gehabt, dass die den noch einmal sprengen“, sagt Engelbert Jesih scherzhaft. Willi Bochmann, Vorsitzender von Glückauf Möllen, kommt gerade noch rechtzeitig mit dem Auto zurück zur Anlage. Als er aussteigt und sich umdreht, erlebt er den entscheidenden Moment mit. Seine Frau hat ihn auf dem Handy festgehalten. André Springborn aus Dinslaken dagegen gelingt das nicht. Sein Wunsch: Beim nächsten Mal, wenn etwa einer der Schornsteine an der Frankfurter Straße fällt, einen Countdown mit den Sekunden bis zur Sprengung darauf beamen.