Essen. Sie liebäugelte mit dem Geist von 1968 – und ging ins Kloster. Da habe sie mehr Chancen gehabt als im weltlichen Leben, sagt Schwester Diethilde.
Sie war Mitte 20, als sie beschloss, Nonne zu werden. Die Zeit atmete damals den Geist von 1968, von Veränderung. „Das fand ich spannend, der Aufbruch, die Emanzipation, die vielen Möglichkeiten. Und ich saß dazwischen.“ Ein halbes Jahrhundert später feiert Schwester Diethilde Bövingloh ihr 50. Ordensjubiläum und sagt: „Für mich war das Kloster die bessere Wahl.“
In Ordenstracht an die Uni
Dass sie einmal Generaloberin der Essener Elisabeth-Schwestern werden würde, konnte sie damals selbstredend nicht ahnen. Doch als sie sich entschied, „mit Jesus den Weg durchs Leben zu gehen“, habe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch in der Kirche Aufbruchstimmung geherrscht. Da sei in ihr eine Stimme immer lauter geworden, die sagte: „Setz’ alles auf die Karte Kirche.“
Elisabeth-Schwestern gründeten erstes Krankenhaus in Essen
Klara Kopp gründete im Jahr 1843 in Essen die Ordensgemeinschaft der Barmherzigen Schwestern von der hl. Elisabeth. Die Schwestern errichteten mit dem Elisabeth-Krankenhaus die erste Klinik der Stadt. Sie pflegten auch Menschen in ihren Wohnungen, kümmerten sich um Waisenkinder und um alte Menschen. Die Schwestern gründeten zudem die St. Elisabeth-Stiftung, die 2006 gemeinsam mit der Stiftung St. Marien-Hospital zu Mülheim die Contilia ins Leben rief.
Erstes Mutterhaus der Schwestern wurde das leerstehende Kapuzinerkloster an der Kapuzinergasse. 1912 verlegten sie es ins Elisabeth-Krankenhaus an der Moltkestraße in Huttrop. 1936 wurde das Kloster Schuir als drittes Mutterhaus fertiggestellt. Als dieses Gebäude für die Schwestern nach vielen Jahrzehnten zu groß wurde, verkauften sie es. Heute dient das Kloster Schuir als Unterkunft für bis zu 500 Flüchtlinge. Die Elisabeth-Schwestern zogen 2016 in ihr neues Mutterhaus in Essen-Schönebeck. Dort können sie auch im Alter gepflegt werden.
Die junge Krankenschwester lebte in Münster, ging zu den Franziskanerinnen von Münster St. Mauritz und sollte hier „bessere Chancen bekommen als im Zivilleben“. Was ihre Bildung betraf, die Vielfalt der Aufgaben, ihre Karriere. „Ich habe in Ordenstracht Lehramt studiert und 30 Jahre lang in Münster Theologie und Biologie unterrichtet.“ Nebenberuflich absolvierte sie ein zweites Studium: Krankenhausbetriebslehre. So konnte sie 2004 von der Schule in die Leitung der Krankenhäuser wechseln, da mitgestalten. Bis sie 66 Jahre alt war.
Der Bischof rief sie nach Essen
Seither machte sie Beerdigungsdienste, betreute Menschen in ihrer Trauer – bis der Bischof sie nach Essen rief. „Es gab hier eine Notlage, weil keine Elisabeth-Schwester mehr da war, die das Kloster hätte leiten können.“ So wurde mit ihr im Jahr 2013 eine Schwester aus einem anderen Orden, der ebenfalls zu den Franziskanern gehört, zur Generaloberin gemacht. Ein neues Modell war das, eins das ihr abverlangte, eine fremde Gemeinschaft intensiv kennenzulernen. Zumal sie in den folgenden Jahren schwere Entscheidungen für die Schwestern treffen sollte. Sie sei sich der Verantwortung bewusst gewesen, sagt sie. Und: „Ich bin entscheidungsstark.“
Die Essener Schwestern schauen auf eine lange Geschichte zurück, 180 Jahre ist es her, dass sie mit dem Elisabeth-Krankenhaus – heute unter dem Dach der Contilia – die erste Klinik in Essen gründeten. Finanziert aus den Mitteln der frommen Frauen. Unter dem Leitspruch: „Wir wollen die Menschen froh machen!“ kümmerten sie sich um die Kranken, Alten und Armen in der Stadt. Kamen zu ihnen, „liefen zur Zeit der Industrialisierung treppauf, treppab durch elende Mietskasernen“, erzählt Schwester Diethilde. Noch bis vor drei Jahren bewirteten sie im Haus Nazareth an der Beethovenstraße im Südviertel täglich bis zu 60 Frühstücksgäste.
Im Kloster Schuir, ihrem Mutterhaus, lebte zuletzt nur noch eine kleine Ordensgemeinschaft teils hochbetagter Nonnen. „Da wohnten noch 27 Schwestern, wo heute 500 Menschen Platz finden.“ Denn heute ist das Kloster ein Flüchtlingsheim. Als Generaloberin plante Schwester Diethilde ein neues Mutterhaus in Schönebeck. Es soll das letzte Zuhause der Schwestern sein: Hier werden sie vom Team des benachbarten Emmaus-Quartiers betreut, können also bleiben, wenn sie pflegebedürftig werden sollten.
Eine Dauerausstellung zeichnet hier die Geschichte der Elisabeth-Schwestern nach, die wohl in diesem Haus ihren Schlusspunkt finden wird. „Wir nehmen bewusst niemanden mehr auf. Man kann jungen Leuten ja nicht zumuten, sich in eine Struktur ihrer Omas einzubinden.“ Noch 18 Ordensfrauen sind sie, die Jüngste ist 72, die Älteste ist 94.
Trotzdem, das betont Schwester Diethilde, sei der Umzug Ende 2016 kein tränenreicher Abschied ins Altenheim gewesen. „Alle zusammen sind in ein neues Haus klösterlichen Lebens gegangen.“ Die Kirche ist der zentrale Raum im Mutterhaus, das Ordensleben wird durch das Gebet bestimmt. Oder wie es Diethilde formuliert: „Wir nehmen uns Zeit, mit Jesus zu flirten.“
Sie selbst ist nicht mit nach Schönebeck gezogen, sondern in ihr Mutterhaus in Münster zurückgekehrt. Sie hatte ihre Mission für die Schwestern erfüllt. Hat mit der Stadt vereinbart, dass diese ein Legat-Grab auf dem Ostfriedhof erhalten. Noch leben sie hier, bescheiden wie eh, sagt Schwester Diethilde. Sie ist nicht mehr Generaloberin, trägt aber als Generaladministratorin weiter Verantwortung. Geleitet wird das Haus von Kerstin Trautmann, die ganz weltlich als Geschäftsführerin fungiert: „ein revolutionärer Schritt“. Um das klösterliche Leben kümmert sich als Hausoberin nun Schwester Waltraud.
Auch Gäste kommen, sehen sich die Ausstellung an, die aufzeigt, wie die Krankenhausgesellschaft Contilia auf dem Werk der Elisabeth-Schwestern fußt. „Hier können sich Mitarbeiter der Contilia ihrer Wurzeln vergewissern“, sagt Schwester Diethilde, die selbst im Contilia-Aufsichtsrat sitzt. Sie weiß, welchen Imageschaden die Krankenhaus-Schließungen im Essener Norden angerichtet haben. Es schmerze sie, wie sehr man die Menschen dort enttäuscht habe. „Ich hoffe, wir können das wieder heilen.“ Dabei geht es ihr auch um das Erbe der Schwestern, die sich altersbedingt, nicht mehr tatkräftig um Alte, Kranke, Behinderte kümmern können.
Kirche strahlt nicht von der Kanzel, sondern in der Caritas
„Jetzt helfen sie mit Geld.“ Sorgen dafür, dass ihre Frühstücksrunde aus dem Haus Nazareth als Suppenküche in St. Gertrud fortgeführt wird, finanzieren zwei Sozialarbeiterinnen, die am Hauptbahnhof Frauen aus der Szene betreuen, sponsern den Gabenzaun. Die Tradition bewahren und Neues schaffen: Mit ihrer Stiftung wollen sie vor allem Essens Norden stärken.
Im Juli feiert Schwester Diethilde ihren 77. Geburtstag: Ihr Körper werde schwächer, „die Begeisterung nicht“. Ihre Energie ist ansteckend, ihr Gottvertrauen ungebrochen. Sie habe einen Don-Camillo-Glauben: „Wenn es eng wird, rufe ich schon mal den Heiligen Geist um Hilfe an.“ Das Bild, das ihre Kirche dieser Tage abgebe, der Missbrauchsskandal, der Umgang mit dem Schmerz der Opfer: Das mache sie wütend – verantworten müsse sie es nicht. Schwester Diethilde ist im Namen der Nächstenliebe unterwegs: „Wenn Kirche noch irgendwo strahlt, dann nicht von der Kanzel, sondern in der Caritas.“
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