An Rhein und Ruhr. Mehr als „nur“ wählen gehen: Achim Wölfel (Mehr Demokratie) erklärt, wie Sie aktiv werden können – und welche Hürden abgebaut werden müssen.

Hunderttausende Menschen sind in den vergangenen Wochen und Monaten bei Demonstrationen in Nordrhein-Westfalen auf die Straße gegangen, um ein Zeichen für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus zu setzen. Die Bewegung Fridays for Future schaffte es in der jüngeren Vergangenheit ebenfalls, einen stärkeren Einsatz für den Umweltschutz ins Bewusstsein vieler Menschen zu bringen. „Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich Bürgerinnen und Bürger einbringen können“, sagt Achim Wölfel, NRW-Landesgeschäftsführer des Vereins „Mehr Demokratie“. Im Gespräch mit der NRZ zeigt der Experte auf, wie Menschen mit ihren Anliegen Gehör finden.

Wölfel unterteilt die bestehenden Beteiligungsformen grob in drei Bereiche.

  • Repräsentative Demokratie (Teilnahme an Wahlen)
  • Partizipative Demokratie (Bürgerräte, Seniorenbeiräte)
  • Direkte Demokratie (Bürgerentscheide, Volksbegehren)

Die Wahlen – ein Grundpfeiler der Demokratie

„Die Teilnahme an Wahlen ist natürlich ein bedeutender Bestandteil unserer Demokratie“, erklärt Wölfel. Auf kommunaler Ebene werden Räte in den Gemeinden sowie Kreistage in den Kreisen gewählt. Dazu kommen die Direktwahlen der Bürgermeister und Landräte sowie in größeren Städten die Wahlen der Bezirksvertretungen.

Wahlen sind einer der Grundpfeiler der Demokratie.
Wahlen sind einer der Grundpfeiler der Demokratie. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ferner wird auch die Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr (RVR) in den zugehörigen Kommunen und Kreisen (Bochum, Bottrop, Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim a. d. Ruhr, Oberhausen, und die Kreise Recklinghausen, Wesel, Unna sowie der Ennepe-Ruhr-Kreis mit insgesamt rund 5,1 Mio. Einwohnern) gewählt. 2020 waren die Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal zu der Direktwahl des „Ruhrparlaments“ aufgerufen.

Daneben wählen die Menschen in NRW den Landtag (alle fünf Jahre), den Bundestag (alle vier Jahre) sowie das Europäische Parlament (alle fünf Jahre). Das Europäische Parlament wird zum Beispiel in diesem Jahr neu gewählt, am 9. Juni findet der Urnengang dazu in Deutschland statt – erstmals dürfen hierbei auch 16-Jährige abstimmen, da das Wahlalter abgesenkt wurde.

Beiräte und Bürgerräte beraten die Politik – Bürger können sich einbringen

In vielen Städten und Gemeinden gibt es Bürgerräte, Seniorenräte und weitere Beiräte zu verschiedenen Themengebieten, bei denen Einwohner vor Ort aktiv werden können, ohne Mitglied einer Partei zu sein. In Oberhausen besteht etwa ein Bürgerrat seit 2016. Die 15 Mitglieder– alle zwei Jahre werden diese aus den eingereichten Bewerbungen ausgelost – treten dort in den Dialog mit dem Oberbürgermeister, um Handlungsempfehlungen zu entwickeln. In Dinslaken soll ebenfalls ein Bürgerrat entstehen, die Kommunalpolitik verabschiedete einen entsprechenden Beschluss im September 2023.

Auch auf Bundesebene können Bürgerinnen und Bürger Gehör finden. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages hatten am 10. Mai 2023, die Einsetzung eines Bürgerrates zum Schwerpunkt „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ beschlossen. Der Rat hat nun am 20. Februar seine Empfehlungen, unter anderem kostenloses Mittagessen an allen Schulen und Kitas, an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und die Fraktionen des Bundestages übergeben.

Direkte Einflussnahme zu Themen – Initiativen, Begehren, Entscheide

Auf kommunaler Ebene in NRW können Bürgerinnen und Bürger (Stadt bzw. Gemeinde, Stadtbezirks oder Kreis) zu einzelnen kommunalpolitischen Sachfragen unter anderem mit einem Bürgerbegehren den Antrag an die Verwaltung stellen, einen Bürgerentscheid durchzuführen. Ein Bürgerentscheid ist schließlich die Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger über diese Sachfrage. Beispielsweise sammelten in Goch Anwohnerinnen und Anwohner 3122 gültige Unterstützungsunterschriften, um zwei Grundschulen im Ortsteil Kessel zu erhalten. Nun entscheidet die Politik, ob sie dem Begehren folgt oder es zu einem Bürgerentscheid kommt, bei dem alle Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgeben können. Die Regelungen dazu finden sich in der „Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen“.

„Zudem gibt es die Möglichkeit von solchen Initiativen auch auf der Landesebene“, klärt Achim Wölfel auf. Drei Wege gibt es, eigene Anliegen in die Landespolitik zu bringen. Volksinitiativen sind darauf ausgerichtet, den Landtag zur Befassung mit einem politischen Sachthema oder einem Gesetzesentwurf anzuhalten. Eine solche Initiative muss von mindestens 0,5 Prozent (ca. 66.000 Personen) der deutschen Stimmberechtigten unterzeichnet sein, die 18 Jahre oder älter sind und in Nordrhein-Westfalen wohnen.

Initiativen können „Druck“ auf die Politik ausüben

Diese Initiativen seien zwar für die Politik nicht bindend, erzeugen aber Druck. „Ein Beispiel ist die Volksinitiative ‚Straßenbaubeiträge abschaffen‘, die fast 450.000 Menschen unterschrieben haben“, erklärt Wölfel. Tatsächlich stimmte der NRW-Landtag nun Ende Februar für die Abschaffung.

Ähnlichen Erfolg habe auch eine unter anderem vom ADFC getragene Volksinitiative mit dem Titel „Aufbruch Fahrrad“ gehabt. Über 200.000 Unterschriften wurden für eine stärkere Radverkehrsförderung gesammelt. „Und tatsächlich hat die Landespolitik ein Fahrradgesetz beschlossen. Zum Zeitpunkt der Initiative war Hendrick Wüst noch Verkehrsminister“, merkt Achim Wölfel an.

Deutlich höhere Hürden gelten für Volksbegehren und Volksentscheide. Ein Volksbegehren kann darauf gerichtet sein, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. Dem Begehren muss ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. Er muss von mindestens acht Prozent der deutschen Stimmberechtigten in NRW ab 18 Jahren gestellt sein (rund eine Million Personen).

Entspricht der Landtag einem Volksbegehren nicht, kommt es zum Volksentscheid. In diesem Fall kann das Volk das Gesetz selbst durch Abstimmung beschließen. Bei diesem Entscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, sofern diese Mehrheit mindestens 15 Prozent der Stimmberechtigten (ca. 2 Millionen Stimmen) beträgt. Ausnahme: Ein Gesetz, mit dem die Landesverfassung geändert werden soll, müssen mindestens zwei Drittel der Abstimmenden zustimmen. Zudem müssen sich mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten an dem Entscheid beteiligen. Näheres regelt in NRW das „Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid“. „Da die Hürden so hoch sind, gab es noch nie Volksbegehren und Volksentscheide“, kritisiert Achim Wölfel.

Nicht zu vernachlässigen: Ehrenamt und politisches Engagement im Alltag

Ein weiterer Bereich, der unsere Demokratie ausmache, sei das ehrenamtliche Engagement, etwa in Vereinen. „Es gibt keine gesellschaftlichen Teilbereiche, die unpolitisch sind“, meint Wölfel. Auch wer als Trainer einer Jugendmannschaft im Sportverein aktiv sei, leiste so seinen gesellschaftlichen Beitrag zum Erhalt der Demokratie. „Das gilt natürlich auch für Schöffinnen und Schöffen oder Wahlhelferinnen und Wahlhelfer.“

Es gibt keine gesellschaftlichen Teilbereiche, die unpolitisch sind.
Achim Wölfel - NRW-Landesgeschäftsführer des Vereins „Mehr Demokratie“

Aus Sicht von Wölfel beginnt der Einsatz für die Demokratie aber schon mit einem einfachen Gespräch. „Ich kann in meinem Umfeld über Politik sprechen.“ Das sei gelebte Demokratie.

Die Proteste in den Bundesligastadien gegen einen Investoreneinstieg zogen sich über Wochen.
Die Proteste in den Bundesligastadien gegen einen Investoreneinstieg zogen sich über Wochen. © dpa | Arne Dedert

Ein Beispiel führt Wölfel aus der Fußball-Bundesliga an, wo wochenlang der Investoreneinstieg ein Thema war. „Dort gelang es den Fans durch friedlichen Protest, das Werfen von Tennisbällen, einen vermeintlich mächtigeren Protagonisten zum Umdenken zu bewegen.“

Zu viele Hürden? Diese Forderungen stellt Achim Wölfel auf

Um die Demokratie in NRW zu stärken, legt Wölfel konkrete Forderungen vor.

  1. Wahlalter auf 16 Jahre herabsenken
  2. Kommunales Wahlrecht auch für Nicht-EU-Ausländer
  3. Unterschriften- und Abstimmungshürden senken
  4. Kostenschätzung für Bürgerbegehren abschaffen
  5. Zentrale Stelle beim Land für demokratische Teilhabe
  6. Finanzvorbehalt abschaffen
Achim Wölfel, der Landesgeschäftsführer von „Mehr Demokratie“, wirbt dafür, dass sich die Menschen in NRW einbringen.
Achim Wölfel, der Landesgeschäftsführer von „Mehr Demokratie“, wirbt dafür, dass sich die Menschen in NRW einbringen. © NRW Desk | Wölfel

1. Den Landtag mit 16 Jahren wählen? Wölfel sieht positive Signale

Bei der Europawahl können in diesem Jahr zum ersten Mal auch Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben, auf kommunaler Ebene ist dies schon länger der Fall, genauer gesagt seit 1999. „Auch auf Landesebene würden wir das begrüßen“, so Wölfel. Entsprechende Signale der schwarz-grünen Koalition in Düsseldorf gebe es bereits, diese Änderung der Landesverfassung bis zur nächsten Landtagswahl 2027 auf den Weg zu bringen. „Die Absenkung des Wahlalters ist auch Teil des Koalitionsvertrags.“ Stimmen werden aber auch aus der Opposition für eine zwei Drittel Mehrheit benötigt.

2. Ausländischen Bürgern kommunales Wahlrecht verleihen

Dass ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die nicht aus einem EU-Mitgliedsstaat stammen, kein kommunales Wahlrecht haben, müsse ebenfalls geändert werden. „Wer hier zehn Jahre oder länger lebt, der sollte auch mitentscheiden dürfen, was vor Ort in seiner Kommune passiert“, positioniert sich Achim Wölfel. Bislang bestehen in den Kommunen Integrationsräte (früher Ausländerbeiräte genannt), die nicht unumstritten sind, etwa durch eingeschränkte politische Gestaltungsmöglichkeiten und auch eine geringere Wahlbeteiligung.

Wer hier zehn Jahre oder länger lebt, der sollte auch mitentscheiden dürfen, was vor Ort in seiner Kommune passiert
Achim Wölfel - NRW-Landesgeschäftsführer des Vereins „Mehr Demokratie“

3. Mindestzustimmung: Zu hohes Quorum lässt Entscheide scheitern

Um die Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen, plädiert Achim Wölfel dafür, bestehende Unterschriften- und Abstimmungshürden abzusenken. Beispielsweise bei Bürgerentscheiden entscheidet zwar die Mehrheit, diese Mehrheit muss aber gleichzeitig je nach Gemeindegröße zwischen zehn und 20 Prozent aller Stimmberechtigten ausmachen. Wird diese Mindestzustimmung nicht erreicht, ist der Bürgerentscheid ungültig. Nach Angaben von „Mehr Demokratie“ scheitern in NRW zwei von fünf zum Bürgerentscheid kommende Bürgerbegehren trotz Abstimmungsmehrheit an dieser hohen Hürde.

4. Kostenschätzung abschaffen

Unterschriftenlisten von Bürgerbegehren müssen aktuell eine Schätzung der Kosten, die auf eine Kommune zukommen, wenn ein Begehren erfolgreich ist, enthalten. „Die jeweilige Gemeindeverwaltung muss diese erstellen, hat aber keine zeitliche Frist, bis wann diese vorliegen muss“, bemängelt Wölfel. Vielfach dauere es Monate, bis eine solche Kostenschätzung vorliege. „Bis dahin ist das Momentum vieler Begehren verloren gegangen.“ „Mehr Demokratie“ plädiert deswegen dafür, diese obligatorische Kostenschätzung abzuschaffen.

5. Stabsstelle für Partizipation beim Land einrichten

Achim Wölfel plädiert dafür, dass entweder beim Land oder dem Landtag eine Stelle geschaffen wird, die sich mit Bürgeranliegen rund um Partizipationsmöglichkeiten beschäftigt. „In Baden-Württemberg gibt es dafür beispielsweise bereits eine Stabsstelle.“ Denn nach Einschätzung von Wölfel mangelt es vielen Bürgerinnen und Bürgern an grundlegenden Informationen, wie sie sich einbringen können. „Eine solche Stelle könnte Anlaufpunkt sein.“ Auch eine stärkere Öffentlichkeit erhofft sich Wölfel.

6. Den Finanzvorbehalt abschaffen

In Nordrhein-Westfalen sind Volksbegehren beziehungsweise Volksentscheide zu Fragen, die den Landeshaushalt berühren, ausgeschlossen. „Volksentscheide, die ausdrücklich Steuern, Kreditaufnahme oder den Haushalt zum Thema haben, sind von vornherein unzulässig“, berichtet der Verein „Mehr Demokratie“. „Welches Thema aber hat gar keine finanziellen Auswirkungen?“, fragt sich Wölfel. „Aus unserer Sicht müsste dieser Vorbehalt abgeschafft werden.“