An Rhein und Ruhr. Studie zeigt auf, dass gerade Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Nichtakademiker kaum repräsentiert sind. Das fordern Experten.

Weiß, ein eher gehobeneres Alter, vor allem männlich und akademisch: Die Kommunalparlamente an Rhein und Ruhr und in Deutschland insgesamt spiegeln kaum die Vielfalt der Bevölkerung wider. Gerade Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Nichtakademiker sind in den Stadträten selten zu finden und deutlich unterrepräsentiert. „In den Kommunen und Städten wird Politik erfahrbar, persönlicher“, erklärt Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, der parteinahen Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen. „Die Kommunalpolitik in Deutschland ist aber in vielen Fällen geprägt von einer homogenen Gruppe von Männern“, so Albrecht. „Wir müssen dringend die Möglichkeiten schaffen, die Vielfältigkeit stärker abzubilden. Dazu müssen wir vorhandene Barrieren abbauen und den Zugang zu Politik erleichtern.“

77 Großstädte wurden untersucht

Im Auftrag der Böll-Stiftung wurden Mandatsträgerinnen und -träger in den 77 deutschen Großstädten sowie in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg befragt – mit eindeutigem Ergebnis: Machen Frauen in etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus (51 Prozent), liegt ihr Anteil in den kommunalen Parlamenten der Großstädte bei 39 Prozent. Noch gravierender ist die Repräsentationskluft bei Menschen mit Migrationshintergrund. Liegt ihr Anteil an der Bevölkerung bei knapp 29 Prozent sind es in den untersuchten Kommunen nur 13 Prozent.

Der Politikwissenschaftler Andreas Blätte, Professor an der Universität Duisburg-Essen und einer der Hauptautoren der Studie, hat drei Kernbereiche bei der Auswertung hervorgehoben.

Migration – Luft nach oben bei allen Parteien

Die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund liegt zwar in den Großstädten nur bei 13 Prozent. Er hat sich im Vergleich zu einer Erhebung aus dem Jahre 2011 aber vom damaligen Wert (4,2 Prozent) aus betrachtet verdreifacht. Geringer ist der Anteil von Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund (11,3 Prozent) und vor allem von Abgeordneten mit Migrationshintergrund in den Landtagen (7,2 Prozent).

Innerhalb der Parteien gibt es ebenfalls große Unterschiede. Während bei den Freien Wählern keine Menschen mit Migrationshintergrund zu finden sind, treten sie bei Grünen (18 Prozent), den Linken (16 Prozent) und der SPD (14 Prozent) deutlicher in Erscheinung – CDU (8 Prozent) und AfD (10 Prozent) liegen dahinter.

Fehlende Repräsentation ist ein „Demokratiedefizit“

Der Politikwissenschaftler Blätte sieht darin ein Repräsentationsdefizit und „somit auch ein Demokratiedefizit“. Dies lasse sich auch nicht durch Integrationsräte beziehungsweise Ausländerbeiräte kompensieren. „In NRW sind die Integrationsräte vor allem in den 80er-Jahren mit einer gewissen Euphorie gestartet.“ In der Praxis haben sie aber das Versprechen der Teilhabe durch eingeschränkte politische Gestaltungsmöglichkeiten und auch eine geringere Wahlbeteiligung nicht eingehalten.

Blätte spricht sich dafür aus, dieses Parallelsystem zur eigentlichen Ratsarbeit zu überdenken. „Der Weg der Einbürgerung ist ein mögliches Instrument, um eine breitere politische Teilhabe derjenigen zu ermöglichen, die bislang politisch ausgeschlossen sind.“ So gelte es, Einbürgerungshürden abzubauen.

Frauen – eine Quote hilft in den Parteien und übt Druck aus

Beim Frauenanteil gibt es große Unterschiede zwischen den Parteien. Wenig verwunderlich ist, dass bei den Grünen (51 Prozent) und den Linken (50 Prozent) die Mandate zwischen Männern und Frauen quasi paritätisch verteilt sind. Hier gelten verbindliche Regelungen zur Frauenrepräsentation. Doch auch die CSU (48 Prozent) kann in den Großstadt-Parlamenten einen hohen Frauenanteil vorweisen – Spitzenpositionen in der CSU würden aber nahezu ausschließlich von Männern besetzt.

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Die SPD (39 Prozent) liegt, wie auch die weiteren Parteien, dahinter zurück – bei den Sozialdemokraten gilt eine Geschlechterquote von 40 Prozent. „Mit nur 12 Prozent Amts- und Mandatsträgerinnen bildet die AfD das Schlusslicht bei der Repräsentation von Frauen“, heißt es in der Studie.

Andreas Blätte zeigt sich durchaus als Freund einer Quote. „Diese wirkt auch über Parteigrenzen hinaus, indem es zusätzlichen Wettbewerbsdruck erzeugt und damit über das Potenzial verfügt, andere Parteien unter Zugzwang zu setzen.“ So lasse sich etwa der hohe Frauenanteil bei der CSU in Städten wie München oder Nürnberg erklären, wo eine Konkurrenz zur SPD bestehe.

Nicht-Akademiker werden gesucht – Grüne sind „Akademikerpartei“

Stadträte scheinen ein Zufluchtsort für Akademikerinnen und Akademiker zu sein. Der Anteil von Mandatsträgern mit abgeschlossenem Studium, Promotion und/oder Habilitation liegt bei allen Parteien weit über dem Bevölkerungsanteil (69 Prozent zu rund 20 Prozent). Am geringsten ist der Akademiker-Anteil bei den Freien Wählern (47 Prozent). Bei der FDP (67 Prozent) und CDU (68 Prozent) sind in etwa zwei Drittel der Ämter und Mandate von Akademikern besetzt, Die Linke, SPD und CSU erreichen gar Anteile von (über) 70 Prozent. Der höchste Anteil findet sich jedoch bei Bündnis 90/Die Grünen. 80 Prozent der grünen Amts- und Mandatsträger verfügen über einen akademischen Bildungsabschluss.

Die Studie sieht hier ein Paradox. „In Zeiten des Fachkräftemangels gilt der Bedeutung von Ausbildungsberufen viel Aufmerksamkeit. Andererseits werden diesen Gruppen kaum politische Chancen eingeräumt.“ Zudem machen sich etwa die Grünen als „Akademikerpartei“ angreifbar seitens politischer Gegner.

Jan Philipp Albrecht wünscht sich insgesamt, dass Zugangshürden abgebaut würden. Frauen etwa, die zu einem großen Teil die Care-Arbeit (Kinderbetreuung, Altenpflege) stemmen, müssten in den Fokus genommen werden. „Und wir benötigen Förderprogramme für Nichtakademiker.“

Für die Befragung wurden insgesamt rund 6.500 Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger in deutschen Großstädten (mindestens 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner) erfasst, sowohl im Ehren- als auch Hauptamt. Von 5763 Personen lagen die Kontaktadressen vor, an diese wurde die Befragung in der Feldphase (April bis August 2022) per E-Mail verschickt. Insgesamt waren 2.592 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereit, an der Befragung teilzunehmen. 2.164 haben diese vollständig beantwortet. Die Rücklaufquoten waren unterschiedlich hoch, bei den Grünen lag sie bei 47,9 Prozent, bei der AfD bei 19,1 Prozent. Die gesamte Studie ist online auf der Internetseite der Heinrich-Böll-Stiftung (boell.de) abrufbar.