Damaskus. Jubel, Furcht, Hoffnung. Wer durch Syrien reist, begegnet Menschen, die noch nicht wissen, was sie nach dem Sturz des Assad-Regimes erwartet.

Es herrscht Chaos am Grenzübergang al-Maasna. Auf der Seite aus Syrien heraus stauen sich die Autos, auf der nach Syrien hinein geht es schleppend voran. Die libanesischen Grenzposten scheinen überfordert, stempeln die Pässe mit beinahe resignativer Lässigkeit ab. Der Fahrer schreit: „Baschar al-Assad?“, spuckt aus dem Fenster, lacht laut und fährt los. An der syrischen Grenzstation wird nicht mehr kontrolliert. Bärtige Männer in zusammengeklaubten Uniformen, die Haare zerzaust, winken jeden durch, der passiert. Plakate mit den Porträts des gestürzten Diktators und seines Vaters hängen zerfetzt von den Wänden. Es sind anarchische Zustände in den Tagen nach dem Umsturz.

Der Sturz des Gewaltherrschers ist nicht einmal eine Woche her, und doch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Auf meiner Reise durch Syrien ist mir die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle begegnet. Unbändige Freude, Trauer, Wut, Unsicherheit und Angst. Das Ende Assads ist der Sieg eines über viele Jahrzehnte unterdrückten Volkes, eine Niederlage für seine Schutzmächte, bestenfalls der Beginn einer besseren Zukunft für das kriegswunde Land und seine geschundene Bevölkerung, schlimmstenfalls der Anfang einer autokratisch-religiösen Herrschaft.

Syrien: Die Bilder der feiernden Menschen erinnern an den Mauerfall

Als ich am Sonntagmorgen im irakisch-kurdischen Dohuk aufwache, haben die Syrer Geschichte geschrieben. Baschar al-Assad hat das Land fluchtartig verlassen, das er und sein Vater Hafiz mehr als fünfzig Jahre lang unterjocht hatten. Die syrische Armee war zuvor angesichts der Blitzoffensive der islamistischen Rebellen der Haiat-Tahrir-as-Scham (HTS) und anderer Aufständischer kollabiert.

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Die Bilder der feiernden Menschen in den Straßen der syrischen Städte haben für mich eine ähnliche emotionale Wucht wie die Bilder weinender, lachender, jubelnder Deutscher, als die Mauer fiel. Endlich frei. Eine bange Frage kommt sofort auf: Ist das auch das Ende des Konfliktes, der nun schon 13 Jahre andauert, der Syrien verwüstet, wirtschaftlich ruiniert, Hunderttausende Menschen getötet und Millionen in die Flucht getrieben hat – oder der Beginn neuen Schreckens?

Freude und Leid liegen in diesen Tagen nah beieinander. Die aus den Foltergefängnissen des Regimes befreiten Gefangenen, wanken ungläubig, ausgemergelt und gezeichnet in ein Leben, an das sich viele kaum noch erinnern können. Sie sind der Hölle entkommen. Für manche Angehörige aber endet alle Hoffnung, ihre Lieben lebendig wiederzusehen.

Jan Jessen in Syrien
Auf dem Weg nach Damaskus sieht Funke-Reporter Jan Jessen viel Freude und Leid nebeneinander. © FMG | Jan Jessen

Auch im kurdischen Qamischlo im Nordosten Syriens feiern am Sonntag die Menschen euphorisch. Die Erleichterung über das Ende Assads mischt sich mit Furcht. In Raqqa und Tabqa, Städten, die einige Autostunden von Qamischlo entfernt sind, kommen immer mehr kurdische Flüchtlinge aus der Shahba-Region nördlich von Aleppo an.

Syrien ist zu einem Flickenteppich geworden

Protürkische Milizen haben einige Tage zuvor eine Offensive in der Region gestartet, unterstützt von türkischen Luftangriffen. Die Flüchtlinge sind in einem fürchterlichen Zustand, untergebracht in Schulen, in Zeltlagern, in ihren Gesichtern sehe ich Fassungslosigkeit und die Angst vor der Zukunft. Sie erzählen mir von Gräueltaten, von Misshandlungen und Raub. Kann so ein Neuanfang aussehen?

Das Nato-Mitglied Türkei attackiert mit den Demokratischen Streitkräften Syriens (SDF) ausgerechnet die Kräfte, die an der Seite des Westens die Terroristen des „Islamischen Staats“ bekämpft und ihr Terrorkalifat zerschlagen haben. Noch immer sind in der syrischen Wüste IS-Fanatiker unterwegs, in den Städten sollen Schläferzellen darauf warten, zuschlagen zu können.

Jan Jessen in Syrien
Funke-Reporter Jan Jessen auf dem Weg nach Damaskus. © FMG | Privat

Syrien hat sich in den vergangenen Jahren zu einem kaum überschaubaren Flickenteppich entwickelt, voller unterschiedlicher Milizen, voller widerstrebender Interessen, wechselnder Koalitionen, sich veränderter Loyalitäten und dem Einfluss von ausländischen Mächten wie den USA, Russland, dem Iran oder der Türkei. Der Sturz Assads bedeutet auch eine herbe Niederlage für seine Schutzmächte und einen Sieg für diejenigen, die gegen die autokratische Achse stehen.

Moskaus Diktator Wladimir Putin zeigt einmal mehr, was er am meisten hasst: Schwäche. Er war nicht in der Lage, einen Mann an der Macht zu halten, der ihm über den Marinestützpunkt Tartus einen Zugang zum Mittelmeer offengehalten hat. Für den Iran bedeutet der Fall Assads, dass der „schiitische Halbmond“, die durchgängige Achse vom Irak über den Iran, Syrien bis in den Libanon zerbrochen ist. Waffenlieferungen an die ohnehin durch den Krieg mit Israel geschwächte schiitisch-islamistische libanesische Hisbollah-Miliz sind nicht mehr möglich.

Der Weg aus dem Norden Syriens nach Damaskus ist beschwerlich

Israel wiederum ist in die völkerrechtlich kaum vertretbare Vorwärtsverteidigung gegangen und hat mit heftigen Luftangriffen die militärische Infrastruktur Syriens zerschlagen. Offensichtlich hält die Regierung Netanjahu die neuen Machthaber in Damaskus für unberechenbare Islamisten, die keinen Zugriff auf die Kampfjets, Helikopter, Schiffe und Waffendepots des alten Regimes haben sollen.

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Als ich von Nordsyrien aus über Land nach Damaskus reisen will, finde ich keinen Fahrer. Die Behörden der Selbstverwaltung raten dringend von dieser Route ab. Viel zu gefährlich, sagen sie. Also fliege ich vom irakisch-kurdischen Erbil nach Katar, von dort aus nach Beirut. Libanesische Freunde haben mir gesagt, es sei kein Problem, von hier nach Damaskus zu reisen. So ist es auch.

Jan Jessen in Syrien
In Syrien herrschen zum Teil anarchische Zustände. © FMG | Jan Jessen

Mit dem Zusammenbruch des Regimes sind die staatlichen Strukturen vorerst kollabiert. Die Checkpoints auf der Straße nach Damaskus, noch mit den Flaggen des alten Regimes bemalt, sind nicht mehr bemannt, die Scheiben kaputt. Am Straßenrand stehen zerstörte Panzer und Fahrzeuge der syrischen Armee, die es jetzt nicht mehr gibt.

In Damaskus will ich auch zur Situation der Minderheiten recherchieren. Christen, Alawiten, Drusen und Kurden sind unsicher, wo ihr Platz im neuen Syrien sein wird. Das sagen mir in diesen Tagen viele Gesprächspartner. Abu Mohammed al-Dschaulani, der Führer der HTS, hat beteuert, den Minderheiten werde nichts geschehen, ihre Rechte würden respektiert. Bislang scheinen die Kämpfer der HTS dieses Versprechen weitgehend einzuhalten, vereinzelt gibt es Videos von Gewalttaten gegen Alawiten, jener Minderheit, der auch der Assad-Clan angehört.

Die von Premierminister Mohammed al-Baschir geführte Übergangsregierung ist aber keine inklusive. Sämtliche Mitglieder dienten in der „Syrischen Erlösungs-Regierung“, deren Rückgrat HTS war und die seit Ende 2017 weite Teile des Nordwestens des Landes kontrollierte. Kein Posten ist an eine Frau oder einen Vertreter der alawitischen, christlichen oder kurdischen Minderheit gegangen. Die Zusammensetzung dieser Regierung mildert die Befürchtungen der Minderheiten nicht ab. Im Gegenteil. Oday, ein junger Christ aus Damaskus, hat mir aber gesagt: „Wir wissen, dass die Situation schwierig ist. Aber alles ist besser als das, was wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben.“