Berlin. Der neue Chef der Übergangsregierung gibt den pragmatischen Verwalter. Doch wie radikal ist die Führung der HTS, die nun Syrien regiert?

Manchmal sind es die Details, die am meisten aussagen. Der neue Regierungschef in Syrien, Mohammed al-Baschir, 41 Jahre alt, erklärt vor laufender Kamera seine Politik. Er sitzt an einem Tisch in einem Konferenzraum, schwarzes Sakko, schwarze Krawatte, weißes Hemd. Im Hintergrund, an der hölzernen Wand, steht die Flagge Syriens, grün, weiß, schwarz. Dazu drei rote Sterne. Es ist die Flagge der Aufständischen gegen das Regime von Diktator Baschar al-Assad. Der ist nun gestürzt und geflohen – und al-Baschir ist der Premierminister der Übergangsregierung.

Doch aufmerken lässt nicht so sehr die Syrien-Flagge, sondern die daneben. Es ist die „Shahada“, das muslimische Glaubensbekenntnis, aufgedruckt in schwarzer Schrift auf weißem Stoff: „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Prophet Gottes.“ Es ist ein klares Bekenntnis der neuen syrischen Machthaber zum Islam. Und viele Beobachter stellen sich nun die Frage: Wie radikal wird al-Baschirs Übergangskabinett? Wie radikal wird Syrien regiert? Und sitzt an der Spitze der Regierung jetzt ein Mann, mit dem der Westen verhandeln kann?

Der Chef der syrischen Übergangsregierung unter der Ägide der HTS: Mohammed al-Baschir.
Der Chef der syrischen Übergangsregierung unter der Ägide der HTS: Mohammed al-Baschir. © AFP | Stringer

Wer ist die Organisation Hayat Tahrir al-Sham, der al-Baschir angehört?

Wer wissen will, wie al-Baschir politisch tickt, muss die Organisation kennen, aus der er kommt: Hayat Tahrir al-Sham, HTS, zu Deutsch: Komitee zur Befreiung Großsyriens. Es ist eine Gruppierung, die international als Terrororganisation eingestuft ist, etwa von den USA und der Europäischen Union. Einst hieß HTS „al-Nusra-Front“, ein Ableger der Terrororganisation Al Kaida. Chef der HTS war damals Abu Mohammed al-Dschaulani. Es ist ein islamistischer Kampfname, eigentlich heißt er Ahmed al-Sharaa. Und al-Sharaa ist auch heute noch Anführer der Gruppe, anders als al-Baschir trägt er olivgrüne Militäruniform.

Personell hat sich an der Spitze nichts geändert. Al-Baschir war seit Januar der eher geräuschlos operierende Regierungschef in der nordwestsyrischen Provinz Idlib. Er wurde 1983 in Dschabal al-Sawija in der Provinz Idlib geboren. 2007 studierte er Elektrotechnik an der Universität Aleppo. 2011 arbeitete er als Abteilungsleiter der staatlichen Gasgesellschaft Syriens. Im Jahr 2021 studierte er noch einmal und machte einen Abschluss in Scharia und Recht an der Universität Idlib. Zweieinhalb Jahre war er als Direktor für die Scharia-Ausbildung im Ministerium für Stiftungen, Berufung und Beratung tätig. Die Scharia, das islamische Recht, beschreibt alle Normen des Islam.

Was waren al-Baschirs politische Funktionen bisher in Syrien?

Ein halbes Jahrhundert herrschte der Assad-Clan, mehr als ein Jahrzehnt tobte der Bürgerkrieg in dem Land. Die Wunden sind tief. Und die politische Landschaft unübersichtlich. Mehrere islamistische Gruppen kämpften gegen Assads Truppen. Nicht nur Muslime leben in dem Land, sondern auch Alawiten, Christen, Kurden und Drusen.

Syriens neuer mächtiger Mann: Abu Mohammed al-Dschaulani.
Syriens neuer mächtiger Mann: Abu Mohammed al-Dschaulani. © AFP | OMAR HAJ KADOUR

Al-Baschirs Erfahrung in der Regierung begrenzen sich auf die Region Idlib. Sein Handeln dort ist Messlatte für seine neue Funktion als Premier in Damaskus. Dort herrschte in den vergangenen Jahren ein neuer Pragmatismus. Statt den Flaggen der Dschihadisten sieht man frisch eröffnete Shopping-Malls. Die Stromversorgung funktioniert ebenso wie die Straßenbeleuchtung oder das Telefonnetz. Darüber hinaus wurde eine neue Freihandelszone errichtet, um reiche Exilsyrer und türkische Geschäftsleute für Investitionen zu gewinnen. Al-Baschir wirkte in erster Linie als Verwaltungsmanager. Idilib, so scheint es, ist für ihn die Blaupause für Syrien.

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    Zugleich hat sich al-Baschir Minderheiten wie Christen oder Drusen gegenüber offen gezeigt und auch den Schutz etwa der kurdischen Gemeinde angemahnt. In Idlib ermöglichte er Frauen eine aktivere Teilhabe an der Gesellschaft, auch wenn keine Frau in der örtlichen Verwaltung arbeitete. Er hat Regeln auf Grundlagen der Scharia gefordert, diese sollten aber „nicht den Standards des IS oder gar Saudi-Arabiens“ entsprechen. Frauen müssen sich nicht komplett verschleiern, Raucher dürfen rauchen.

    Das alles passt in den Kurs der HTS. Anführer al-Dschaulani hat sich vor einigen Jahren von Dschihadisten des IS und Al Kaida glaubhaft distanziert. Doch auch in Idlib gibt es Gefängnisse und Folter. Hardcore-Widerständler gegen die Islamisten-Regierung werden nicht geduldet. Allerdings gibt es zumindest einen gewissen Raum für Toleranz. So gingen dieses Jahr Tausende auf die Straßen und kritisierten al-Dschaulani als Tyrann in einem autoritären System.

    Wie reagiert der Westen auf den neuen Regierungschef al-Baschir?

    Und so wachsen im Westen auch skeptische Stimmen bei der Bewertung der neuen syrischen Regierung unter der Herrschaft der HTS. Der Terrorismusexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College hat Zweifel, ob sich Syrien wirklich hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entwickelt. Zwar habe sich HTS-Chef al-Dschaulani von Al Kaida losgesagt. Seine Gruppe sei aber weiter islamistisch geprägt und habe das Ziel, eine Art Gottesherrschaft in Syrien einzuführen, sagte Neumann im ZDF.

    Die HTS gilt Fachleuten als islamistisch – gleichzeitig ging die Gruppe offensiv gegen Dschihadisten des „Islamischen Staates“ in der Provinz Idlib vor. Ob der Übergangs-Ministerpräsident al-Baschir dies auch in ganz Syrien Ebene schafft, muss er beweisen. Dschihadistische Gruppierungen werden nicht stillhalten. Immerhin: Im Nordosten Syriens haben von Kurden angeführte Kräfte eine Waffenruhe mit protürkischen Kämpfern vereinbart.

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    Wie sehr zeigt sich al-Baschir gesprächsbereit mit dem Westen?

    Es sind al-Baschirs erste Statements, die nun international beachtet werden. In einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender al-Jazeera ruft er zu „Ruhe und Stabilität“ in Syrien auf. Al-Baschir sucht auch den Kontakt zu westlichen Medien. „Mein Appell richtet sich an alle Syrer im Ausland: Syrien ist jetzt ein freies Land, das seinen Stolz und seine Würde wiedererlangt hat. Kommen Sie zurück!“, sagte al-Baschir in einem Interview der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“. Es sei eines seiner wichtigsten Ziele, dem Land zu einem Aufschwung zu verhelfen. Al-Baschir geht es dabei sicher auch um milliardenschwere westliche Finanzhilfe beim Wiederaufbau seines Landes.

    Freude in Damaskus bei vielen Menschen: Anhänger der Opposition tragen Oppositionsfahnen.
    Freude in Damaskus bei vielen Menschen: Anhänger der Opposition tragen Oppositionsfahnen. © AP/dpa | Hussein Malla

    Auf die Außenpolitik angesprochen erklärte al-Baschir, er und seine Übergangsregierung hätten „keine Probleme mit Staaten, Parteien oder Sekten, die sich von Assads blutrünstigem Regime distanziert haben“. Die Frage, ob er sich vom Iran, Russland und der Hisbollah distanzieren und mit Israel Frieden schließen wolle, beantwortete er nicht. Die außenpolitische Neuausrichtung Syriens ist völlig offen.

    Al-Baschir steht ein heikler Balanceakt bevor. Der britische Sender BBC spricht von einem „moderaten Dschihad“ mit „pragmatischen Zielen statt starrer Ideologie“, die IS und Al Kaida in letzter Zeit an Einfluss verlieren ließen. Es wäre der Versuch, Unterstützer im In- und Ausland zu halten und zugleich den islamistischen Hardlinern in den eigenen Reihen gerecht zu werden.

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