Die Atomruine Fukushima produziert weiter schlechte Nachrichten. Außenminister Westerwelle bietet beim Solidaritätsbesuch in Japan Hilfe an.
Hamburg/Tokio. Guido Westerwelle besuchte am Sonnabend die japanische Hauptstadt Tokio. Der deutsche Außenminister versprach nach der Atomkatastrophe von Fukushima Hilfe aus der Bundesrepublik beim wirtschaftlichen Wiederaufbau. "Japan kann sich auf Deutschland als Partner verlassen“, sagte Westerwelle nach einem Gespräch mit seinem Amtskollegen Takeaki Matsumoto. Zugleich forderte er von Japan "größte Transparenz" bei der Aufklärung der Reaktorkatastrophe. Bislang lieferte Deutschland etwa 220 Tonnen Hilfsgüter, darunter auch eine Spezialpumpe, die bei der Kühlung des Kernkraftwerks hilft.
Unterdessen nehmen die schlimmen Nachrichten aus dem Umfeld des Atomkraftwerks Fukushima kein Ende. Wie am Sonnabend bekannt wurde, sickert aus einem 20 Zentimeter langen Riss in einer Reaktorwand radioaktives Wasser in den pazifischen Ozean. 40 Kilometer vom AKW entfernt wurden bereits stark erhöhte Werte des gefährlichen Jod-131 gemessen. Der AKW-Betreiber Tepco bestätigte nach Angaben des Fernsehsenders NHK, dass aus dem Leck unter Reaktor 2 Wasser mit einer Strahlung von mehr als 1000 Millisievert pro Stunde ins Meer laufe. Greenpeace-Experte Wolfgang Sadik bezeichnete die gemessenen Werte als „lebensbedrohlich“.
Westerwelle sagte: „Wir haben Hilfe angeboten, werden sie aber nicht aufdrängen.“ Japan sei selbst ein „sehr erfolgreiches und stolzes Land“. Der Riss ist laut NHKin der Wand einer zwei Meter tiefen Grube für Stromkabel. Tepco wolle das Loch mit Beton dichten, hieß es weiter. Um das verseuchte Wasser in der Anlage zu beseitigen, soll die Flüssigkeit unter den Turbinengebäuden in Tanks geleitet werden, meldeten die Nachrichtenagenturen Kyodo und Jiji Press. An diesem Sonntag sollen zudem Tests zum Besprühen der Anlage mit Harz zur Eindämmung der Strahlen fortgesetzt werden.
Japanische Fischer reagierten mit Entsetzen und Wut auf die Nachrichten. „Was soll nur aus unserem Leben nun werden“, zitierte Jiji Press einen Fischer. Ministerpräsident Naoto Kan reiste drei Wochen nach dem Erdbeben mit anschließendem Tsunami und inzwischen mehr als 11 800 Toten erstmals in das Krisengebiet. Er sagte den Überlebenden der Katastrophe und ihren Helfern volle Unterstützung zu. „Es ist ein etwas langer Kampf, aber die Regierung wird Ihnen bis zum Ende beistehen und ihr Bestes tun, bleiben auch Sie bitte zäh“, sagte Kan vor Feuerwehrmännern in der vom Erdbeben und dem Tsunami schwer verwüsteten Stadt Rikuzentakata in der Präfektur Iwate. Als Zeichen der Solidarität mit Japan nach dem schweren Erdbeben sollen die Spitzen von weltweit neun Hochhäusern am Montag in den japanischen Nationalfarben Rot und Weiß erstrahlen.
Außenminister Westerwelle äußerte sich auch zur künftigen deutschen Energiepolitik, die jetzt eine Brücke ins Zeitalter der erneuerbaren Energien bauen müsse. „Es wäre ja keine Lösung, dass man mit irgendwelchen Scheinkompromissen weitergeht“, sagte der FDP-Chef. „Man will ja auch, dass ein Fortschritt erfolgt.“ Westerwelle kehrt an diesem Sonntag nach Deutschland zurück. Zuvor war er drei Tage in China. (dpa/abendblatt.de)
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Was geschieht in Fukushima? Welche Gefahren lauern?
Der Atomunfall von Fukushima ist die schwerste Havarie in einem Kernkraftwerk seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986. Wie kam es zu dieser Katastrophe und wie gravierend sind die Auswirkungen?
Was war der Auslöser der Katastrophe von Fukushima?
Sie wurde von dem Tohoku-Erdbeben verursacht, das mit 9,0 auf der Richterskala das stärkste je in Japan gemessene Beben war. Die Pazifische Platte schiebt sich bei Japan mit 83 Millimetern pro Jahr unter die eurasische sowie einen Keil der nordamerikanischen Platte und biegt sie dabei nach unten. Diese Spannung entlud sich am 11. März um 6.46 MEZ in einer Tiefe von 25 Kilometern, 130 Kilometer östlich der Stadt Sendai. Bereits dabei entstanden so schwere Schäden am Kernkraftwerk, die zum GAU führten - und nicht erst durch den folgenden Tsunami, wie die Betreiberfirma Tepco zunächst behauptete. Zwar gab es in Fukushima, wie auch in zehn weiteren der 55 japanischen Atomkraftwerke eine Notabschaltung. Der atomare Zerfallsprozess setzt sich dann jedoch fort - weshalb weiter gekühlt werden muss. Als Notstromaggregate waren Dieselgeneratoren vorgesehen - doch der Tsunami hatte die nicht wasserdicht gebauten Generatoren zerstört. In den drei laufenden Reaktorblöcken 1, 2 und 3 erhitzten sich die Brennstäbe aufgrund der fehlenden Kühlung. Es bildete sich Wasserstoffgas, das nacheinander in allen drei Reaktoren explodierte und die äußeren Hüllen beschädigte. Offenbar hat zudem in allen drei Reaktoren eine Kernschmelze eingesetzt. Dabei schmelzen die Brennstäbe und können sich als Brei am Boden des Reaktors sammeln. Vermutlich sind in den Reaktorblocks 2 und 3 die Sicherheitsbehälter geborsten, und hoch radioaktives Material ist in den Erdboden eingedrungen. Im abgeschalteten Block 4, in dessen Abklingbecken heiße Brennstäbe lagern, kam es zu einer Wasserstoffexplosion, die das Gebäude schwer beschädigte. Die Lage dort ist ebenfalls kritisch. Die Blocks 5 und 6 dagegen haben mittlerweile den Status "kalt und unterkritisch" erreicht.
Warum werden immer wieder erschreckende Messwerte erst vermeldet und dann korrigiert?
Am Freitag hat die Betreiberfirma von Fukushima-Daiichi, Tepco (Tokio Electric Power Company), angeblich die 10 000-fach erhöhten Strahlenwerte im Grundwasser des Geländes bestätigt. Andreas Küppers, Geologe am Geoforschungszentrum Potsdam, hat dort jahrelang geforscht, dabei auch die Anlage in Fukushima besucht. Er kennt Unterlagen, Karten und Bohrprofile aus der Umgebung. Eines ist ihm dabei nicht untergekommen: Ein Hinweis auf Schichten im Boden, die Grundwasser führen. Er vermutet, die Meldungen über 10 000-fach erhöhte Jod-131-Werte im Grundwasser seien schlicht einem "Übersetzungsfehler" geschuldet. Es gebe Schächte und Tunnels unter der Oberfläche, möglicherweise seien die Messungen dort durchgeführt worden. Schon in den Tagen zuvor wurden immer wieder Meldungen über erhöhte Werte im Boden oder in der Luft verbreitet, die dann Korrigiert wurden. Angeblich handelte es sich dabei um Messfehler, unterschiedliche Messmethoden, die von Tepco oder der japanischen Atomaufsichtsbehörde angewandt wurden oder Computerfehler.
Welche Maßnahmen sollen die Menschen in der betroffenen Region schützen?
Die Regierung von Ministerpräsident Naoto Kan hat eine Zone von 20 Kilometern um das Kraftwerk evakuiert. Sie hat ferner alle Menschen in einer 30-Kilometer-Zone zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert. Einige Experten fordern eine 40-Kilometer-Zone, die weitere 130 000 Menschen betreffen würde; dies lehnt die Regierung jedoch ab. Die Bewohner außerhalb der Evakuierungszone wurden aufgefordert, Türen und Fenster geschlossen zu halten. Dies ist nur sinnvoll bei einer vorüberziehenden Strahlungswolke, nicht bei andauernder Verstrahlung.
Welche Folgen hat die Katastrophe?
Die Kernschmelze setzt große Mengen an Radioaktivität frei - vor allem Jod 131- und Cäsium-137-Partikel. Schon jetzt sind Rindfleisch, Milch und Gemüse in den betroffenen Präfekturen derart verstrahlt, dass sie vernichtet werden müssen. Im Meer vor dem AKW liegt die Strahlung um das 4385-Fache über dem Grenzwert. Fische dürfen dort nicht mehr gefangen werden. Die langfristigen Auswirkungen der Strahlenbelastung auf das Meer werden von manchen Experten aber als eher gering bewertet. Die vom Reaktor auch in die Luft abgegebene radioaktive Strahlung hat mit dem Wind längst Tokio erreicht, in dessen Metropolregion 35 Millionen Menschen leben. Eine hohe Strahlenbelastung kann langfristig Krebserkrankungen und Gendefekte auslösen. Das Trinkwasser in Tokio ist bereits so belastet, dass es Babys nicht mehr gegeben werden darf.
Welche Gefahren lauern noch?
Die größte Gefahr geht von Reaktorblock 3 aus. Dessen Brennstäbe bestehen aus einer Mischung aus Uran- und Plutoniumdioxid (MOX). Plutonium 239 gilt als die giftigste Substanz der Welt, ist stark krebserregend und hat eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren. (Cäsium 137: 30 Jahre, Jod 131: acht Tage). Die Sperrzone um das Kraftwerk wird auf lange Zeit nicht aufgehoben werden können - in Tschernobyl besteht sie seit 25 Jahren. Dort werden die Arbeiten am Reaktor noch mindestens 70 Jahre andauern - auch in Fukushima wird dies noch Jahrzehnte dauern.
Regierungssprecher Yukio Edano, der seit Wochen die Hiobsbotschaften verkünden muss, setzte in der Krise ein Zeichen der "Normalität": Er trug wieder Anzug statt Blaumann.
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