Hamburg. In der Relegation steht für das HSV-Duo auch interne Überzeugungsarbeit im Fokus. Geht es für beide weiter? Und kommt Okoroji?

Am Sonntag passierte etwas Ungewöhnliches im Volkspark. Obwohl Tim Walter das Abschlusstraining vor dem Relegationsrückspiel an diesem Montag gegen den VfB Stuttgart (20.45 Uhr/Sky, Sat.1 und im Liveticker bei abendblatt.de) auf 13 Uhr angesetzt hatte, waren am Nachmittag weder der HSV-Coach noch seine Spieler zu sehen.

Trainiert wurde trotzdem. Allerdings nicht auf den Trainingsplätzen, sondern im Stadion unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ein solches, bei anderen Vereinen zur Routine gewordenes Geheimtraining gab es beim HSV tatsächlich noch nie, seit Walter seinen Job vor zwei Jahren übernommen hat.

Überrascht HSV-Trainer Tim Walter?

Eine Maßnahme, die der 47-Jährige nicht mit dem Einstudieren taktischer Veränderungen, sondern mit dem wegen der beiden Metallica-Konzerte neu verlegten Rollrasen begründete. „Wir wollen den neuen Platz testen“, sagte Walter, der womöglich nicht die ganze Wahrheit erzählte.

Denn während seiner Einheit waren sowohl im HSV-Fanshop als auch im Restaurant „Die Raute“, von wo aus man für gewöhnlich beste Einblicke auf das Spielfeld in der Arena hat, die Rollladen heruntergezogen. Tüftelte Walter also doch etwas aus, womit er den VfB überraschen will?

Walter glaubt an Wunder gegen Stuttgart

Klar ist, dass der HSV nicht ein zweites Mal so auftreten sollte wie beim 0:3 im Hinspiel vor vier Tagen, als Stuttgart in allen Belangen besser war und sogar deutlich höher hätte gewinnen müssen. Für das von Sportvorstand Jonas Boldt zitierte Aufstiegswunder bräuchten die Hamburger nun einen Sieg mit vier Toren Unterschied.

Ein kaum realistisches Szenario, dem Walter dennoch mit viel positiver Energie und einer optimistischen Körpersprache entgegenfiebert. „Die Jungs haben schon einige Rückschläge eingesteckt. Wir sind immer wieder aufgestanden, weil wir kämpfen bis zum Ende“, sagte Walter mit voller Überzeugung und nannte als Beispiel das 3:3 in Heidenheim, als der HSV schon einmal zur Halbzeit mit 0:3 zurücklag.

Auch gegen Stuttgart ist erst eine „Halbzeit“ gespielt. Wie vor vier Monaten in Heidenheim spricht auch diesmal nichts für den HSV – außer den von Walter angesprochenen „Comeback-Qualitäten“ seiner Spieler. „Meine Jungs haben einen richtig geilen Charakter. Wir sind eine Familie, von der ich zu 1887 Prozent überzeugt bin.“

Was wird beim HSV aus Walter und Boldt?

Ein bewusst gewähltes, mathematisch nicht korrektes Rechenbeispiel in Anlehnung an das Gründungsjahr des HSV. Doch was passiert beim HSV, wenn die Überzeugung allein nicht für sportlichen Erfolg ausreichen sollte und es deshalb zum Streit innerhalb der Familie kommt, um bei Walters Metapher zu bleiben?

Für Walter und Boldt geht es gegen den VfB nicht nur darum, sich an den letzten Aufstiegsstrohhalm zu klammern. Im Fokus steht auch, den Kritikern mit einer weiteren deutlichen Niederlage nicht neue Argumente zu liefern.

Bislang steht die Mehrheit des Aufsichtsrats hinter Boldt, der sich für einen neuen Aufstiegsanlauf mit Walter starkmachen würde, und hielte auch bei einem Zweitligaverbleib am Manager fest. Doch so groß Boldts Rückhalt im Aufsichtsrat auch ist, bei Walter scheiden sich die Geister. Das Hinspiel nährte die Zweifel, ob seine für Spektakel stehende, aber defensiv anfällige Spielidee für dauerhaften Erfolg sorgen kann.

Sollte es nun zu einem ähnlichen Spielverlauf kommen, müsste der Aufsichtsrat kritischere Fragen stellen. Für das Duo Boldt/Walter dient die Partie gegen Stuttgart also auch dafür, Überzeugungsarbeit für den eigenen Weg zu leisten.

HSV-Trainer Tim Walter (l.) und Sportvorstand Jonas Boldt wollen gemeinsam in die neue Saison gehen, auch wenn es in der Relegation gegen Stuttgart nicht zum Aufstieg reichen sollte.
HSV-Trainer Tim Walter (l.) und Sportvorstand Jonas Boldt wollen gemeinsam in die neue Saison gehen, auch wenn es in der Relegation gegen Stuttgart nicht zum Aufstieg reichen sollte. © dpa

HSV: Wie Walter noch aufsteigen will

Doch es gibt eben auch noch einen sportlichen Wettbewerb, der trotz der Hinspielhypothek noch nicht verloren ist. „Wir fangen bei minus drei an, versuchen uns aber peu à peu nach vorne zu arbeiten“, formulierte der entschlossen auftretende Walter die Etappenziele für seine Profis. Der HSV-Coach setzt darauf, die ohnehin vorbildlich hinter der Mannschaft stehenden Fans mit einem Führungstor zusätzlich zu emotionalisieren.

Doch allein dieser Versuch wird nicht reichen, um aufzusteigen. Vielmehr muss den Hamburgern im Rückspiel der schwierige Spagat gelingen, mindestens drei Tore zu schießen und sich zugleich defensiv nicht so anfällig zu präsentieren wie im Hinspiel. Mit seinen schnellen Offensivleuten hatte Stuttgart die Schwächen in Walters System einer hoch stehenden Abwehr gnadenlos aufgedeckt.

Walter macht die Vielzahl der zugelassenen Torchancen jedoch nicht an seiner Spielweise, sondern an seinen Spielern fest, die ihre Leistungsgrenze nicht erreicht hatten. „Nur wenn jeder 100 Prozent abliefert, haben wir als Team eine Chance.“

HSV sucht Rechtsverteidiger: Kommt Okoroji?

Unzufrieden war der HSV-Coach vor allem mit Rechtsverteidiger Moritz Heyer, der von Stuttgarts sehr agilem Linksaußen Chris Führich schwindlig gespielt worden war und kaum einen Zweikampf gewann. „Der viel gescholtene Miro Muheim (Linksverteidiger) hat ein sehr gutes Spiel gemacht, weil er früher am Gegner dran war. Das war eigentlich auch der Auftrag auf der anderen Seite“, sagte Walter über die Defensivschwächen im Hinspiel, die gerade auf Heyers rechter Abwehrseite deutlich wurden.

Es ist ein Problem, das sich durch die komplette Rückrunde gezogen hat und längst auch von den für die Kaderplanung verantwortlichen Boldt und Claus Costa (Direktor Profifußball) erkannt wurde. In der kommenden Saison wird der HSV deshalb mit einem neuen Rechtsverteidiger antreten.

Einer der Kandidaten ist Chima Okoroji, der Sandhausen dank einer Ausstiegsklausel ablösefrei verlassen darf. Der schnelle und vielseitig einsetzbare 26-Jährige spielte beim Zweitligaabsteiger zwar ausschließlich auf der linken Seite, beim HSV käme er nach Abendblatt-Informationen aber für die Position rechts hinten in der Viererkette infrage.

HSV ohne David gegen Stuttgart?

Doch für das Relegationsrückspiel gegen Stuttgart wird Okoroji noch nicht helfen können, um den Qualitätsunterschied zu kompensieren. Individuell ist der Bundesligist auf jeder Position, außer im Tor, besser besetzt als der HSV.

Erschwerend hinzu kommt der drohende Ausfall von Innenverteidiger Jonas David, der das Abschlusstraining wegen einer Erkältung verpasste. Sollte es für David nicht reichen, könnte Walter mangels Alternativen beziehungsweise Vertrauen in Javi Montero auf eine Dreierkette umstellen.

„Wir sind mittlerweile ein normaler Zweitligist“, sagte Walter über die Qualität seines Personals. Trotzdem glaubt der Trainer an die minimale Außenseiterchance gegen den VfB. „Im Fußball ist alles möglich“, sagte Walter und ergänzte nach einer kurzen Pause: „Alles.“

Die voraussichtlichen Aufstellungen:

  • HSV: Heuer Fernandes – Heyer, David, Schonlau, Muheim – Meffert, Reis, Kittel – Jatta, Glatzel, Königsdörffer.
  • Stuttgart: Müller – Mavropanos, Anton, Ito – Vagnoman, Karazor, Endo, Sosa – Führich, Silas – Guirassy.