Hamburg. Im Rückspiel der Relegation kehrt der HSV-Trainer erstmals zum VfB Stuttgart zurück, der ihn 2019 einen Tag vor Heiligabend feuerte.

Vor viereinhalb Jahren reisten Sven Mislintat und Thomas Hitzlsperger von Stuttgart nach Schleswig-Holstein. Bei einem Spiel von Zweitligist Holstein Kiel wollten der damalige Sportdirektor und der damalige Sportvorstand des VfB Stuttgart den Kieler Mittelfeldspieler Atakan Karazor beobachten. Was die beiden sahen, gefiel ihnen. Doch es war nicht nur Karazor, der Eindruck hinterließ. Es war auch der Fußball von Kiels Trainer Tim Walter, der Mislintat und Hitzlsperger erstaunte.

Die beiden hatten im Sommer 2019 schließlich die Idee, nach der verlorenen Relegation gegen Union Berlin und dem erneuten Abstieg in die Zweite Liga einen neuen, mutigen Weg zu wählen. Mit jungen Spielern. Mit Karazor. Aber vor allem auch mit Walter. Für rund eine Million Euro kaufte der VfB den Kieler Trainer nach zähen Verhandlungen mit Holsteins Sportdirektor Fabian Wohlgemuth aus dem laufenden Vertrag.

Vier Jahr später hat sich einiges verändert. Wohlgemuth ist mittlerweile Sportdirektor in Stuttgart, Mislintat und Hitzlsperger haben den VfB verlassen, und Walter trainiert seit zwei Jahren den HSV. Nur drei Konstanten sind geblieben: Karazor spielt immer noch in Stuttgart, der VfB zittert mal wieder um den Abstieg, und der HSV ist immer noch Zweitligist.

Stuttgart und der HSV verpassten ihr Saisonziel

Am Donnerstagabend (20.45 Uhr/Sat.1, Sky und Liveticker auf abendblatt.de) kommt es nun im Relegationshinspiel zwischen dem VfB und dem HSV zum großen Wiedersehen: zwischen Walter und Wohlgemuth, zwischen Walter und Karazor – und zwischen Walter und dem VfB. Ein Wiedersehen, das eigentlich niemand wollte. Weder der VfB, der nach der Rettung am letzten Spieltag vor einem Jahr eigentlich eine ruhige Saison spielen wollte. Und weder Walter, der in diesem Jahr eigentlich nur einen Auftrag hatte: direkt aufzusteigen.

Beides hat nicht geklappt. Der VfB hat durch das 1:1 gegen 1899 Hoffenheim den vorzeitigen Klassenerhalt verpasst. Und Walter muss nach dem Drama von Sandhausen mit dem Zehn-Minuten-Aufstieg an Pfingstsonntag ausgerechnet in Stuttgart eine Extrarunde drehen. An dem Ort, an dem er im Dezember 2019 einen Tag vor Heiligabend entlassen wurde. Trotz Platz drei und einem Punkteschnitt von 1,85. Eine Wunde, die bei Walter noch nicht vollständig verheilt sein dürfte. Zum ersten Mal wird der 47-Jährige am Donnerstag wieder als Trainer an der Seitenlinie der Mercedes-Benz-Arena stehen.

Tim Walter hat beim HSV den gleichen Punkteschnitt wie in Stuttgart

Anders als in Stuttgart haben die Verantwortlichen des HSV das Vertrauen in Walter nicht so schnell verloren wie Mislintat beim VfB. Auch in Hamburg hat Walter einen Schnitt von 1,85 Punkten pro Spiel. Nur Branko Zebec (2,11) und Ernst Happel (1,86) hatten in der HSV-Geschichte einen besseren Schnitt von allen Trainern, die mehr als drei Spiele betreut haben. Wenngleich sie diese Werte in der Bundesliga erreicht haben. Walter ist allerdings der erste Trainer seit Frank Pagelsdorf, der in zwei Spielzeiten vom ersten bis zum letzten Spieltag an der Linie stand. 26 Trainer dazwischen haben das nicht geschafft.

Geht es nach Walter, kommt noch eine dritte Saison dazu. Anders als bei Boldt, dessen Vertrag der Aufsichtsrat bei einem Nichtaufstieg auflösen könnte, gilt Walters Vertrag nach Abendblatt-Informationen auch für ein weiteres Zweitligajahr. Und weil der Aufsichtsrat mehrheitlich zu Boldt steht, dürfte dieser wohl auch im Fall einer Relegationsniederlage an Walter festhalten. „Wenn man kontinuierlich eine Idee hat und immer wieder aufsteht, wird es irgendwann reichen“, sagte Boldt bereist am Sonntag unmittelbar nach dem Drama in Sandhausen über den Aufstieg des 1. FC Heidenheim.

Walter hat seine Spielidee seit Stuttgart angepasst

Dass Walter in Hamburg einen größeren Rückhalt hat als in Stuttgart, liegt auch daran, dass er sich angepasst hat – sowohl sportlich als auch menschlich. Walter würde das nicht zugeben. Doch ein Vergleich zu seiner kurzen Zeit in Stuttgart reicht, um das zu belegen. Ließ Walter auch in seiner Anfangszeit beim HSV noch so wild spielen wie beim VfB, ist das Spiel der Hamburger zumindest ein wenig sortierter geworden. Lange Bälle des Torwarts sind nicht mehr verpönt, sondern durchaus mal ein legitimes Mittel.

Die Konteranfälligkeit, die Walter in Stuttgart unter anderem auch im Spiel gegen den HSV (2:6) zum Verhängnis wurde, konnte er aber auch in Hamburg nicht beheben. Sie gehört zur Spielidee des Trainers dazu. Was Walter aber schon in Stuttgart geschafft hat: die Spieler auf seine Seite zu ziehen.

Walter eckte schon in Stuttgart mit seinem Selbstbewusstsein an

Auch das Trainerteam beim HSV ist ein verschworener Haufen. Beim VfB eckte der Trainer intern immer wieder an, ging keinem Konflikt aus dem Weg. Zudem polarisierte er in der Außendarstellung. Sein mitunter übertrieben zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein kam in Stuttgart, wo schwäbische Bescheidenheit gelebt wird, nicht gut an.

Im hanseatisch geprägten Hamburg ist das zwar ähnlich. Und auch beim HSV hört man immer mal wieder Stimmen, die sich über Walters vermeintliche Beratungsresistenz ärgern. Der Trainer klopft noch immer gerne mal einen großen Spruch, doch er hört auch zu. Zumindest einem kleinen Kreis an Vertrauten. Mit Olaf Meinking hat er mittlerweile einen Berater, den er in Hamburg regelmäßig trifft und der ihn auch kommunikativ berät. In Stuttgart ermittelte mal der DFB gegen Walter, als dieser nach einem 0:0 gegen Aue gesagt hatte: „Ich dachte, meine Frau pfeift. Die ist auch immer für die mit den schönsten Trikots.“

Solche Sätze hört man von Walter beim HSV nicht mehr. Grundlegend verändert hat sich der Badener beim HSV aber nicht. Noch immer wirkt seine Art auf Außenstehende arrogant oder überheblich. „Ich habe viel gelernt und beim HSV jetzt noch viel mehr gelernt“, sagte Walter angesprochen auf seine Zeit in Stuttgart. Mehr will der HSV-Trainer zu seiner Vergangenheit beim VfB nicht sagen. Er weiß aber, dass die vielen Erinnerungen wieder präsent sind, wenn er am Donnerstagabend im Stuttgarter Stadion einläuft.