Das Gericht verlas das polizeiliche Vernehmungsprotokoll. Der angeklagte Martin N. hatte angegeben, keine weiteren Kinder getötet zu haben.

Stade. Es gibt kein Vergeben, kein Vergessen. Auch nach 16 Jahren tut es nicht weniger weh. So lange ist es jetzt her, dass sein Sohn Dennis Opfer des sogenannten "Maskenmannes" wurde. Martin N. hatte den Jungen 1995 aus einem Zeltlager am Selker Noor entführt, hatte mit ihm ein paar Tage in einem Ferienhaus in Dänemark verbracht – dort erwürgte er ihn und verscharrte die Leiche in den Dünen. Und nun sitzt sein Vater Michael R., nur zwei Meter von dem Mörder entfernt, im Schwurgerichtssaal des Stader Landgerichts. Der Angeklagte Martin N., der sich wegen dreifachen Mordes und 20-fachen sexuellen Kindesmissbrauchs verantworten muss, schaut, wie er immer schaut. Er starrt auf einen fiktiven Punkt irgendwo auf dem Schreibtisch vor sich. Ein Mann mit buschigem Vollbart und tiefen Ringen unter den Augen, so regungslos und starr, dass man ihn für einen schwer sedierten Menschen mit ernsten psychischen Problemen halten könnte. Er blickt nicht einmal zu ihm hoch. Schämt sich Martin N.? Empfindet er gerade irgend etwas? Es bleibt sein Geheimnis und sein Gesicht: eine einzige Maske.

Nein, für Michael R. ist die Geschichte noch lange nicht zuende, sie ist auch dann nicht zuende, wenn in voraussichtlich zwei Wochen das Gericht ein Urteil verkünden wird.

Drei Morde hat der Triebtäter eingeräumt, alle will er in Verdeckungsabsicht begangen haben: den Mord an Stefan J., 13, Dennis R., 8, und Dennis K., 9. Dass er die Kinder erwürgte, um eine Straftat zu verdecken - diese Version kauft Michael R. dem Angeklagten nicht ab. Wie Ulrich J., Vater des ersten Mordopfers, ist er überzeugt, dass sich der 40 Jahre alte Pädagoge noch an den Leichen der ermordeten Kinder verging – einige Anhaltspunkte in den rechtsmedizinischen Gutachten lassen die Theorie zumindest nicht vollkommen abwegig erscheinen.

"Ich hoffe, dass er seine gerecht Strafe bekommt und nie wieder freikommt“, sagt Michael R. "Nie, das heißt lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung.“ Ein hünenhafter, kräftiger Mann sitzt da mit Händen, die eher Pranken sind. Die Statur ähnelt der von Martin N. - auch deshalb hätten die Ermittler zunächst ihn 1995 im Visier gehabt, sagt Michael R. Als er dem Gericht von seinem Sohn erzählt, sackt seine Stimme ab. Ein fröhlicher Junge sei Dennis gewesen, aufgeweckt und manchmal nachts ein "kleiner Angsthase“.

Als sich Martin N. in sein Zelt schlich, hatte Dennis R. keine Angst – im Gegenteil. In der polizeilichen Vernehmung hatte der 40-Jährige kurz nach seiner Festnahme im April 2010 ausgesagt, der Junge sei regelrecht erfreut über sein Erscheinen gewesen. "Da lag Dennis, war noch wach, er sagte, er wolle mit mir ein Abenteuer erleben. Völlig verrückt.“

Freiwillig sei er mit ihm gegangen, sagte Martin N. den Beamten. "Er fand das total spannend, dass er da mit mir wohnen kann. In diesen Tagen lebten wir zusammen wie Vater und Sohn.“ Sie hätten Eis gegessen, Würstchen gegrillt und seien am Strand spazieren gegangen. Zu sexuellen Handlungen sei es da jedoch nicht gekommen.

Nach einigen Tagen sei ihm aber klar geworden, dass er den Jungen nicht einfach wieder zurückbringen könne, da habe er ihn, während er auf dem Fußboden spielte, erwürgt. Anschließend habe er das Kind entkleidet, um Spuren zu beseitigen, und es vergraben.

Die Hinterbliebenen der ermordeten Kinder gehen völlig unterschiedlich mit ihrem Leid um. Wo bei der Mutter von Dennis K. noch tiefe Agonie vorherrscht, treibt den Vater des 1992 getöteten Stefan J. der Ehrgeiz, dem Maskenmann die Unzucht mit den Leichen nachzuweisen. Seine Frau wiederum hat alles getan, um den Schmerz von ihrem damals fünf Jahre alten Sohn fernzuhalten.

Michael R. ist in ein tiefes Loch gefallen, er scheint es noch heute nicht ganz herausgeschafft zu haben. „Ich leide noch immer sehr unter dem Verlust meines Sohnes“, sagt Michael R. mit zitternder Stimme. Da gebe es diesen einen Song von der Gruppe Unheilig, "geboren, um zu leben“. "Immer wenn ich das Lied höre, kommt die ganze Traurigkeit wieder hoch“. Das Abgründige zu ergründen, ist Aufgabe des Gerichts. Schon allein im Lichte der Monstrosität der kaltherzigen Verbrechen an den Kindern ist dies eine enorme Herausforderung.

Zudem schweigt Martin N., allein die vom Gericht verlesenen polizeilichen Vernehmungsprotokolle lüften den Schleier der grausamen Taten. Und sie belegen auch, welch verqueres Bild Martin N. von sich hatte: Er wolle nur das "Beste für alle Menschen“ und sei "total hilfsbereit", teilte er den Beamten mit. "Ich bin ein Guter“, stammelte er während einer jener Vernehmungen, die der 40-Jährige regelmäßig nur schniefend, wimmernd und weinend überstand.

Die Beamten fragten auch, nach welchen Kriterien er sich seine Opfer aussuchte. "Reine Zufallsbegegnungen“, antwortete Martin N. Er nutzte offenbar mehrfach seine Position als pädagogischer Betreuer von Jugendferienfreizeiten aus. Gefiel ihm ein Junge, reichte ein Blick in eine Liste mit den persönlichen Daten, um seine Adresse herauszufinden. Einen Jungen lernte er auf einer Ferienfreizeit der Bremer Sportjugend kennen, "den fand ich gut“, später habe er ihn durchs Fenster beobachtet. Er habe eines Abends geklingelt, ihn in die Wohnung gedrängt. Dann musste das Kind ihn „anfassen“.

Viel öfter drang er, der "schwarze Mann“, offenbar in Wohnungen und Häuser in Bremen ein, die Schlüssel lagen nicht selten unter den Fußmatten. "Ich hatte ganz einfach Glück“, sagte Martin N. Er sei erstaunt gewesen, wie leichtsinnig die Menschen seien. Einen Jungen suchte er gar mehrfach auf. Nie habe er ein Kind aber vorsätzlich umgebracht, nach dem letzten Mord an Dennis K. habe er "das alles nicht mehr gewollt“.

Um sein Bedürfnis in den Griff zu kriegen, habe er sich deshalb an kinderpornografischen Bilder ergötzt. Ob er an eine Therapie gedacht habe, fragten ihn die Beamten. "Da müsste ich den Therapeuten ja belügen, dann ist so eine Therapie ja völlig nutzlos“, antwortete Martin N.

Der 40-Jährige wird mit mindestens zwei weiteren Kindermorden in Frankreich und den Niederlanden in Verbindung gebracht. Gegenüber der Polizei bestritt er jedoch, mit weiteren Fällen etwas zu tun zu haben. "Jetzt haben wir alles, was ich angestellt habe“, sagte er den Beamten damals. Ob das zutrifft, ist gerade noch Gegenstand der Ermittlungen.

Die Lüge ist Martin N. aber offenbar nicht fremd. Nach 2001, so gab er an, habe er keine weiteren Taten begangen, keine Kinder mehr missbraucht. Allerdings meldete sich kurz vor Prozessbeginn ein junger Mann, der behauptete, Martin N. habe sich zwischen 2002 und 2004 an ihm vergangen. Er soll an einem der nächsten Prozesstage als Zeuge aussagen. Glaubt ihm das Gericht, wird es für Martin N. eng: Dann müsste der psychiatrische Gutachter seine Gefährlichkeitsprognose möglicherweise korrigieren, was wiederum auf die Frage der Sicherungsverwahrung durchschlägt. Ordnet das Gericht sie an, kommt Martin N. vermutlich nie wieder auf freien Fuß. Der Prozess wird fortgesetzt.