Die Eltern der ermordeten Jungen Stefan J., Dennis R. und Dennis K. hoffen auf Gerechtigkeit: Ab heute muss sich ihr mutmaßlicher Mörder Martin N. vor dem Landgericht Stade verantworten.
Hamburg. Vor dem Landgericht Stade hat am heutigen Montag einer der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre begonnen. 19 Jahre nach seiner mutmaßlich ersten Tat und ein halbes Jahr nach seiner Festnahme muss sich der Harburger Martin N. für die Morde dreier Jungen verantworten. Die Staatsanwaltschaft legt dem 40-jährigen gebürtigen Bremer neben der Ermordung der Jungen im Alter von acht bis 13 Jahren auch 20 Missbrauchstaten an Kindern zur Last. Er soll seine Opfer von 1992 an in Schullandheimen, Zeltlagern und in Bremer Wohnhäusern missbraucht oder sie von dort aus verschleppt haben. Stefan J. war im Jahr 1992, der achtjährige Dennis R. 1995 und der neun Jahre alte Dennis K. 2001, der der Sonderkommission schließlich ihren Namen gab, ermordet aufgefunden worden.
Der als "schwarzer Mann“ oder "Maskenmann“ Gesuchte war im April in Hamburg nach einer neuen Zeugenaussage eines früheren Missbrauchsopfers festgenommen worden. Der Angeklagte hat bei polizeilichen Vernehmungen die Taten gestanden.
Gutachten: Keine Persönlichkeitsstörung bei Martin N.
Kurz vor der Eröffnung des Prozesses gegen Martin N. waren neue Details bekannt geworden. Laut einem vorläufigen psychologischen Gutachten, das dem NDR Fernsehen vorliegt, leidet der mutmaßliche Kindermörder nicht unter einer Persönlichkeitsstörung. Nach dem jetzigen Wissenstand lägen die Voraussetzungen für eine verminderte Schuldfähigkeit oder eine Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung nicht vor.
Das vorläufige Gutachten wurde auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft Stade von Norbert Nedopil, Professor an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in München, erstellt. Es wurde jetzt Prozessbeteiligten zugestellt.
Der Gutachter schätzt das Rückfall-Risiko von Martin N. derzeit als unwahrscheinlich ein. Unter anderem, weil er sich seit 2001 weitestgehend von pädophilen Übergriffen zurückgehalten hatte.
Weitere Hintergründe berichtet das NDR Fernsehen in der Dokumentation "Der schwarze Maskenmann“, die am heutigen Montag um 21 Uhr als Sondersendung zum Prozessauftakt zu sehen ist.
+++ Prozess gegen mutmaßlichen "Maskenmann" beginnt +++
+++ Opfer von Martin N. erheben schwere Vorwürfe +++
+++ Entführt, erwürgt, verbuddelt - Prozess im Oktober +++
Möglichen Pannen bei den Ermittlungen gegen Martin N. räumt die Staatsanwaltschaft Stade nicht allzu viel Bedeutung ein. "Wir sind bestens aufgestellt“, sagte Behördensprecher Kai Thomas Breas am Montag vor Beginn des Prozesses gegen den "Maskenmann“. Sollten tatsächlich Akten nicht mehr vorhanden sein, sei das "völlig nebensächlich“, sagte Breas der Nachrichtenagentur dpa. Die Staatsanwaltschaft sei zuversichtlich, dem angeklagten Martin N. drei Morde und zahlreiche Missbrauchsfälle nachweisen zu können.
Der NDR hatte berichtet, Polizei und Staatsanwaltschaft hätten in Bremen und Bremervörde Akten vernichtet, obwohl die entsprechenden Taten zu dem Zeitpunkt noch nicht verjährt gewesen seien. Außerdem habe die Bremer Polizei eine öffentliche Warnung der Bevölkerung abgelehnt, die Eltern in Bremen gefordert hatten, nachdem dort in kurzer Zeit siebenmal Jungen im Stadtteil Lehe missbraucht worden waren. Breas konnte konkret zu diesen Vorwürfen keine Stellungnahme abgeben und verwies auf die Ermittler in Bremen und Bremervörde.
Landgericht Stade: Mitarbeiter haben kaum Zeit zum Durchatmen
Am Landgericht Stade haben die Mitarbeiter derweil im Moment kaum Zeit zum Durchatmen. Mit dem Prozess gegen Martin N. beginnt das nächste Großverfahren, das dafür sorgt, dass sich alle Augen auf Stade richten. "Es geht pausenlos weiter", sagt Landgerichts-Präsident Carl-Fritz Fitting. Für das Landgericht wird dieser Zustand langsam zur Belastung. Jammern bringt allerdings nichts. "Wir sind in der Pflicht", so Fitting.
Der Behördenleiter spricht mittlerweile bereits vom "ganz normalen Wahnsinn". Seit einigen Jahren gebe es am Stader Landgericht im Bereich der Kapitalverbrechen "eine Massierung, die kriminologisch nicht festzumachen ist", sagt Fitting. An den einzelnen Kammern würden zwei bis drei Großverfahren parallel verhandelt. So beschäftigt sich derzeit die 1. Große Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Rolf Armbrecht beispielsweise mit einem der umfangreichsten Strafverfahren, die jemals am Stader Landgericht verhandelt worden sind.
Im Prozess gegen zwei mutmaßliche Stader Drogenringe sitzen zehn Angeklagte im Sitzungssaal, sie werden von 20 Rechtsanwälten verteidigt. Es wurde bereits an mehr als 60 Sitzungstagen verhandelt. Ein Ende zeichnet sich noch nicht ab. Doch damit noch nicht genug. Vor der 1. Großen Strafkammer wird zurzeit auch ein Verfahren verhandelt, bei dem 110 Taten von gewerbsmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln angeklagt sind.
Vor der 2. Großen Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Berend Appelkamp läuft seit Mitte September der Prozess gegen den mutmaßlichen Drahtzieher und einen Helfer des brutalen Raubüberfalls von Oldendorf, bei dem der Unternehmer Gerd H. im vergangenen Dezember ums Leben kam und seine Frau Marianna schwer verletzt wurde. Der heute beginnende Prozess gegen den mutmaßlichen Kindermörder Martin N. wird ebenfalls vor der 2. Großen Strafkammer verhandelt.
Die Vielzahl der Großverfahren ist nach Aussage von Landgerichtspräsident Fitting eine massive Kraftanstrengung für alle Beteiligten. "Dabei müssen alle zusammenarbeiten", sagt Fitting. Am Landgericht müsste immer schnell, viel und sauber gearbeitet werden. Schnell muss es vor allem dann gehen, wenn Verdächtige in Untersuchungshaft sitzen. Zwischen Festnahme und Beginn der Hauptverhandlung dürfen nicht mehr als sechs Monate vergehen, so die Vorgabe.
Nach Ablauf dieser Frist müssten die Inhaftierten freigelassen werden, solange es nicht gute Gründe für deren Verbleib im Gefängnis gibt. Darüber entscheidet in diesen Fällen das Oberlandesgericht in Celle. Sollte dann der einzige Grund sein, das Landgericht Stade könne nicht verhandeln - für die Verantwortlichen des Landgerichts wäre dies ein Horror-Szenario. "Das geht gar nicht", sagt Fitting.
Für den Landgerichts-Präsidenten ist in diesem Fall die Grenze der Belastbarkeit überschritten. Bislang sei es im Bezirk des Stader Landgerichts jedoch noch nicht dazu gekommen, dass Häftlinge entlassen werden mussten, weil die Sechs-Monats-Frist unbegründet überschritten wurde. Allerdings gebe es in Stade seit einigen Jahren "viel mehr Haftsachen", sagt Petra Baars, Pressesprecherin des Landgerichts.
Das stellt die Verantwortlichen vor große Probleme bei der Terminplanung. Schließlich müssen Richter, Verteidiger, Staatsanwaltschaft und Sachverständige Zeit haben. Außerdem muss für ausreichend Sicherheit gesorgt werden. Wenn gemeinsame Termine für die Verhandlungen gefunden wurden, dann geht es als nächstes darum, einen Sitzungssaal zu bekommen. Dass die Räumlichkeiten in dem Gebäude begrenzt sind, liegt auf der Hand. Zurzeit wird jeden Tag am Stader Landgericht verhandelt.
Ein funktionierendes Saalmanagement zu erstellen sei äußerst anspruchsvoll, sagt Präsident Fitting. Doch eine Erleichterung ist bereits in Sicht. Im Jahr 2013 soll die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Bremervörde ans Netz gehen. Dann wird die JVA Stade, die eine Außenstelle der JVA Uelzen ist, geschlossen. Dort, wo bislang die Zellen sind, könnten dann neue Sitzungssäle gebaut werden. Zwischen acht und zehn Vorführzellen würden jedoch weiterhin benötigt, sagt Fitting. Schließlich wäre es etwas aufwendig, die Häftlinge in jeder Verhandlungspause von Stade wieder zurück nach Bremervörde zu transportieren.
Werden allerdings am Stader Landgericht weiterhin so viele Verfahren verhandelt, könnte es irgendwann wirklich problematisch werden. Wenn mehr Verfahren reinkommen als abgeschlossen werden, "könnte man sie irgendwann nur noch verwalten", sagt Fitting. Der Landgerichtspräsident müsse derzeit "so umschichten, dass keine Kammer erpressbar ist". Das heißt, die Kammern dürften nicht in einen Deal genötigt werden, beispielsweise weil sich eine Verhandlung über einen langen Zeitraum hinzieht.
"Es gibt die Taktik der Verschleppung", sagt Fitting. Dabei würden Verteidiger das Verfahren bewusst hinauszögern. Der Landgerichts-Präsident betont allerdings, dass Verteidigung eine hohe Berechtigung hätte. Und: "Ein Verteidiger darf stören, das bestimmen die Gesetze." Gleichzeitig verweist er allerdings darauf, dass es gelegentlich Verhalten gebe, das diese Grenzen sprengt. "Das Gericht kann dann nur bedingt Einhalt gebieten", sagt Fitting. Allerdings sei es oft nicht einfach, "die Trennschärfe zwischen engagierter, kompetenter Verteidigung und Obstruktion zu treffen".
Mit Material von dpa und dapd