Schon am 4. September, dem Tag des Angriffes, gab es massive Hinweise auf zivile Opfer. Die Bundeswehr gab sie aber nicht weiter.
Hamburg. Der Vorwurf ist schwerwiegend: Bundesverteidigungsministerium und Bundeswehr sollen Informationen über Opferzahlen und Umstände des Bombardements von Kundus am 4. September bewusst zurückgehalten haben. Das Protokoll einer Vertuschung:
Am 3. September trifft beim deutschen Wiederaufbauteam (PRT) im nordafghanischen Kundus um 21.12 Uhr die alarmierende Meldung ein, dass Bewaffnete südlich von Kundus zwei Tanklaster mit Treibstoff für die Nato gekapert und die Fahrer ermordet hatten. Zwei Stunden später werden die Laster von einem B1-B-Bomber der US-Luftwaffe auf einer Sandbank im Kundus-Fluss entdeckt.
Der deutsche Kommandeur des PRT Kundus, Oberst Georg Klein, befürchtet, dass die Taliban den Treibstoff zum Bau von Bomben verwenden wollen. Aufgrund von Videobildern aus US-Kampfjets und einer als zuverlässig eingestuften afghanischen Quelle, nach deren Auskunft nur regierungsfeindliche Kräfte vor Ort sind, genehmigt Klein am 4. September um 01.39 Uhr einen Bombenangriff der US-Luftwaffe auf die Tanklaster. Um 01.49 Uhr treffen die Bomben die Tanker.
Um 6 Uhr morgens des 4. September veröffentlicht die Bundeswehr eine Mitteilung unter dem Titel "Erfolgreicher Einsatz gegen Aufständische im Raum Kundus". Das Verteidigungsministerium erklärt dazu: "Unbeteiligte sind nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zu Schaden gekommen.
Doch wie die "Bild"-Zeitung schrieb, meldete das Regionalkommando in Masar-i-Scharif schon wenige Stunden nach dem Angriff an das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam bei Berlin, dass im Krankenhaus von Kundus sechs Opfer mit Brandwunden behandelt würden, darunter zehnjährige Kinder. Außerdem lägen im Krankenhaus die Leichen von zwei Teenagern. Am Abend des 4. Septembers berichtet das Regionalkommando, dass die Taliban Dorfbewohner gezwungen hätten, beim Abzapfen des Treibstoffes zu helfen. 14 dieser Dorfbewohner seien seitdem verschwunden. Bei einem Besuch am Einsatzort am späten Nachmittag will der US-Oberkommandeur in Afghanistan, General Stanley McChrystal, zivile Opfer nicht ausschließen.
Und Brigadegeneral Jörg Vollmer, Kleins Vorgesetzter als Regionalkommandeur, meldet dem Einsatzführungskommando in Potsdam noch am Abend des 4., dass der vermeintlich zuverlässige afghanische Augenzeuge gar keinen Sichtkontakt zum Geschehen am Kundus-Fluss hatte.
Nach Auskunft der Bundesregierung schicken der Gouverneur der Provinz Kundus, der Vorsitzende des Provinzrates sowie die Chefs von Polizei und Geheimdienst am 6. September einen Bericht an Präsident Hamid Karsai. Darin heiße es, dass es 56 Todesopfer gegeben habe - und zwar ausschließlich Bewaffnete. Jung erklärt, dass es Oberst Klein möglich war, anhand der US-Videosequenzen die Menschen um die Laster als bewaffnete Taliban zu identifizieren. Ein Nato-Bericht, ebenfalls vom 6. September, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass dies unmöglich gewesen sei. Am selben Tag bezieht sich Minister Jung gegenüber der "Bild am Sonntag" auf "sehr detaillierte Aufklärung über mehrere Stunden durch unsere Kräfte ..." und erklärt, nach seinen Informationen seien bei dem Angriff ausschließlich terroristische Taliban getötet worden.
Zwei Tage später, am 8. September, sagt Jung vor dem Bundestag, Oberst Klein hatte "durch klare Aufklärungsmittel den eindeutigen Hinweis, dass es sich ausschließlich um regierungsfeindliche Kräfte handelt." Ebenfalls am 8. September räumt die Nato ein, dass bei dem Angriff Zivilisten getötet wurden.
Die Feldjäger - Militärpolizisten der Bundeswehr - erstellen einen detaillierten Geheimbericht mit 42 Anlagen, in dem dokumentiert wird, dass aufgrund der Aufklärungsergebnisse "offensichtlich war, dass der Bombenabwurf zu zahlreichen Toten und Verletzten führen wird oder geführt hat. Ohne dass unmittelbar vor und nach dem Vorfall adäquat gehandelt wurde". Dieser Bericht, aus dem "Bild" zitierte, wird jedoch nicht der Leipziger Staatsanwaltschaft vorgelegt, die inzwischen ein Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein prüft.
Noch am 29. Oktober sagt Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, es gebe keine Bestätigung dafür, dass bei dem Angriff "unbeteiligte Personen" getötet worden seien. Zu diesem Zeitpunkt ist die afghanische Untersuchungskommission längst zu dem Ergebnis gekommen, dass zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind.