Ist die SPD müde? Hat die Traditionspartei mit ihren Traditionen auch ihre Wähler verloren? Nach dem jüngsten Wahlergebnis überlegen manche Politikwissenschaftler schon, ob die historische Mission der Sozialdemokratie - rund 140 Jahre nach Gründung der ersten “Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ 1869 in Eisenach - nicht einfach beendet sei, wenn sie heute für die Praxisgebühr oder die Hartz-IV-Gesetze eintritt.
Keine andere Partei steht so klar für die politische Emanzipation derer, die im Kaiserreich noch rechtlos waren. Auf ihren ersten Kongressen in Eisenach 1869 und in Gotha 1875 forderte die junge Sozialdemokratie nicht nur das Wahlrecht und das Verbot der Kinderarbeit, sondern nannte auch ihr Ziel: "Abschaffung der Klassengesellschaft" und einen "freien Volksstaat".
An der Frage, ob der Weg dorthin über einen revolutionären Umsturz zu erreichen sei oder aber über das Erkämpfen von Gesetzen und Mehrheiten im Parlament, hat sich die Bewegung über Jahrzehnte entzweit. Aufhalten ließ sich ihr Einfluss aber selbst unter Bismarcks "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (1878 bis 1890) nicht. Die SPD wurde nach ihrer Neuformierung 1890 rasch zur größten Partei innerhalb der Sozialistischen Internationale.
Der langjährige SPD-Vorsitzende August Bebel vertrat im Reichstag seit 1898 den Wahlkreis Hamburg I und gehörte zu den profiliertesten Rednern und Antragstellern im Parlament. "Für Bebel", schrieb Philipp Scheidemann, "war der Reichstag tatsächlich das Hohe Haus, das er nur in Feiertagskleidung betrat, weil hierher das Volk seine Besten, jedenfalls die schicken wollte, die sein Vertrauen genossen und seine Interessen vertreten sollten." Rosa Luxemburg warf Bebel vor, er habe sich "für den Parlamentarismus und im Parlamentarismus gänzlich aufgegeben".
Damit hatte sie Unrecht. Für Bebel ging es nicht nur um die Frage "Revolution oder Reform", sondern um eine Art Kulturreformation: um die Umdeutung der herrschenden bürgerlichen Werte, ihre Besitznahme und Veränderung im Sinne einer neuen Gesellschaft. Nicht umsonst hielt er den hartgesottenen Macho-Proletariern in "Die Frau und der Sozialismus" (1883) den Spiegel vor und prägte den berühmten Satz: "Der beste Maßstab für die Kultur eines Volkes ist die Stellung, welche die Frau einnimmt."
Im Umfeld der SPD - wie sie sich seit ihrem Erfurter Parteitag 1891 nannte - entstanden Arbeitersportvereine, Bildungsvereine, Frauenvereine, Schrebergartenvereine, die zusammen mit den Gewerkschaften die Basis der SPD festigten. 1914 stimmte die SPD-Fraktion im Reichstag geschlossen für die Kriegskredite - ein Abfall von ihrer bisherigen pazifistischen Haltung. In der Folge verließ der äußerste linke Flügel die Partei, aus dem Spartacusbund und der USPD bildete sich die Kommunistische Partei Deutschlands.
Es war eine überfällige, aber folgenschwere Spaltung, die in der Weimarer Zeit nicht nur die SPD, sondern die noch instabile Demokratie insgesamt schwächte. Sie hat letztlich dazu geführt, dass die Arbeiterschaft nicht geschlossen gegen Hitler eintreten konnte. Stattdessen lieferten sich auch in Hamburger Arbeitervierteln Kommunisten und Sozialdemokraten Straßenschlachten - bis es zu spät war. Nach 1933 bluteten SPD und KPD aus - buchstäblich.
Tiefe Verbitterung sprach deshalb noch aus den Worten Kurt Schumachers, als er sagte, Kommunisten seien "rot lackierte Faschisten". Unter Schumachers Vorsitz begann die Nachkriegs-SPD mit ihrem Wiederaufbau. Im Godesberger Programm bekannte sie sich 1959 zu einem "demokratischen Sozialismus", den sie auf friedlichem Wege der "Mitbestimmung" erreichen wolle.
1949 unterlag die SPD mit 29,2 Prozent der Union mit 31,0 Prozent, aber in der Adenauer-Ära konnte sie ihre Stimmengewinne kontinuierlich ausbauen. 1969 zeigte sich erneut die "reformatorische" Funktion der SPD: Willy Brandt kam mithilfe der FDP an die Macht, weil er repräsentierte, was die Union versäumt hatte: einen Aufbruch zu "mehr Demokratie" und zu einem neuen Lebensgefühl.
Damals waren fast alle SPD-Abgeordneten im Bundestag auch noch Gewerkschaftsmitglieder. Im Verlauf der 70er- und 80er-Jahre jedoch verlor die enge Koalition zwischen Gewerkschaften und SPD ihre Unschuld - Stichworte Neue-Heimat- und Co-op-Skandal. Das alte "Proletariat", das der SPD noch im "rheinischen Kapitalismus" zuverlässig die Stange gehalten hatte, wich einer Dienstleistungsgesellschaft ohne feste Lager.
Die "Neue Mitte" der Aufsteiger hat zwar 1998 Gerhard Schröder an die Macht gewählt. Aber diese Mitte ist hybrid. Sie wählt auch schwarz oder gelb oder grün. Die alten SPD-Wähler aber fühlten sich zurückgelassen und um etwas betrogen, für das die SPD seit 140 Jahren stand: Solidarität.