Im Kampf um Benzin entführten die Taliban zwei LKW. Bundeswehr-Soldaten wollten die Tankwagen befreien, Nato-Flugzeuge griffen ein.
Kundus/Berlin. Die Taliban errichten einen Checkpoint, wie sie es trotz der Bundeswehr-Präsenz in der nordafghanischen Provinz Kundus immer öfter machen. Sie stoppen zwei Tanklastzüge und bringen sie in ihre Gewalt, später köpfen sie zwei der Fahrer. Die Aufständischen verfrachten ihre Beute in den Unruhedistrikt Char Darah.
Die Bundeswehr fordert einen Luftangriff bei der Internationalen Schutztruppe Isaf an. Bei dem Bombardement explodieren die Tanklaster, mehr als 50 Menschen sterben. Es ist der bislang blutigste Luftangriff im deutschen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan – wo die Soldaten inzwischen in die schwersten Gefechte seit Bestehen der Bundeswehr verwickelt sind.
Bis zum Bombardement ist der Ablauf der Geschehnisse in der Nacht zum Freitag unstrittig. Die Kernfrage aber ist unbeantwortet: Starben ausschließlich Aufständische oder kamen auch Zivilisten in der Flammenhölle ums Leben? Der Sprecher des Bundes-verteidigungsministeriums, Christian Dienst, sagt, dass die Opfer „fast alle gegnerische Kräfte, zumindest Beteiligte waren“. Dienst argumentiert: „Sie können davon ausgehen, dass der Angriff angeordnet wurde, weil keine unbeteiligten Zivilpersonen durch den Angriff hätten zu Schaden kommen können.“
Nach dieser Argumentation dürften in Afghanistan nie Zivilisten bei Luftangriffen sterben. Die Realität sieht anders aus. Nadschibullah, der Angehörige eines Opfers aus dem betroffenen Dorf Hadschi Amanullah berichtet: „Mehr als 150 Menschen wurden getötet oder verletzt (...) In der Gegend waren auch Taliban, aber mehr Opfer gibt es unter Zivilisten.“
Der afghanische Präsident Hamid Karsai macht zwar keine Angaben zu zivilen Opfern, teilt aber mit, er „bedauere“ das Bombardement – Bedauern äußert der Präsident normalerweise nicht, wenn Taliban getötet werden. Zivile Opfer, so sagt der Präsident, seien „unter keinen Umständen akzeptabel“.
Auch die Isaf, die den Luftangriff flog, äußert sich deutlich vorsichtiger als das Bundes-verteidigungsministerium. „Die Isaf bedauert jeden unnötigen Verlust von Menschenleben und ist zutiefst besorgt über das Leid, das diese Aktion unseren afghanischen Freunden bereitet haben könnte.“ Der Polizeichef von Kundus, Abdul Rasak Jakubi, spricht von „einer Anzahl Zivilisten“, die getötet oder verletzt worden sei. Klarheit wird – wenn überhaupt – erst die von der Isaf angekündigte Untersuchung des Vorfalls bringen.
Gewiss ist aber schon jetzt, dass die Taliban ihre Drohung wahr gemacht haben: Sie haben den radikal-islamischen Aufstand in den Norden getragen. Besonders das einst sichere Kundus ist betroffen, wo die Entwicklung immer mehr an die südafghanische Unruheprovinz Kandahar erinnert. Vor der Präsidentschaftswahl vor gut zwei Wochen sagte ein Anführer der Taliban in Kundus namens Maulawi Kari Baschir dem US-Magazin „Newsweek“:„Die Deutschen sollten besser mehr Särge schicken, um ihre toten Söhne einzusammeln.“
Das mag zu einem Gutteil großspurige Taliban-Propaganda sein. Dass die Gewalt aber trotz der immer stärkeren Bundeswehr-Präsenz eskaliert, ist unstrittig. Kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge oder Gefechte. Erst am Donnerstag wurden bei Kämpfen vier deutsche Soldaten verletzt, nach Angaben der Bundeswehr wurden mindestens drei Aufständische getötet.
Ein Hauptfeldwebel, der alleine in den ersten vier Wochen seines Einsatzes in fünf Feuergefechte verwickelt wurde und bereits 2008 in Kundus war, sagte kürzlich:„Die Lage hat sich im Vergleich zum vergangenen Jahr um 180 Grad gewendet. Das ist Krieg. Definitiv.“
In der Bundeshauptstadt teilt Ministeriumssprecher Dienst – der sich gegen Spekulationen der Journalisten „im warmen Sessel in Berlin“ über das Bombardement in Kundus verwehrt – die Einschätzung des erfahrenen Soldaten nicht. „Es handelt sich um einen Stabilisierungseinsatz“, sagt Dienst, „zugegeben um einen recht robusten Stabilisierungseinsatz, der Kampfhandlungen miteinschließt.“