Der Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi dient nur noch als Karikatur. Sein Grünes Buch, mit dem er der Mao-Bibel nacheifern wollte, wird verlacht.
Tripolis. Sie schwitzten und sie hungerten: der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika, sein tunesischer Amtskollege Zine al-Abidine Ben Ali und alle anderen arabischen und afrikanischen Staatschefs, die Muammar al-Gaddafi 2010 zu den Feierlichkeiten zum Start des 42. Revolutionsjahres nach Tripolis eingeladen hatte. Die Parade am 1. September vergangenen Jahres fiel in den Ramadan, und die Datteln und die Kamelmilch, die sie traditionell zum Fastenbrechen bei Sonnenuntergang bekamen, reichten den Honoratioren nicht. "Sie hatten schnell genug von den Militärparaden und Musikkapellen", erinnert sich Youssif Mrayed, "und verschwanden, um sich den Bauch vollzuschlagen."
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Der 65 Jahr alte Bauingenieur ist dieses Jahr zum ersten Mal auf dem Grünen Platz, auf dem die Jubelfeiern zur Erinnerung an den Putsch Gaddafis gegen König Idris stattfanden. "Angeordnetes Massenspektakel", sagt angewidert Mrayed, der in Aachen studierte und perfekt Deutsch spricht. "Ich habe mir das höchstens im Fernsehen angesehen. Zu feiern war mir nie zumute."
Auf dem Grünen Platz ist es leer. Autos stoppen vor der Bank al-Dschamahirija. Die Fahrer holen sich einen Espresso in einem um die Ecke gelegenen Café. Im vierten Stock der Bank sind unzählige Einschüsse zu sehen. Die Scheiben sind Bruch. Ein Scharfschütze hat wohl von hier aus gefeuert. Schräg gegenüber, an den Säulen der Nationalen Kommerzbank, hängen Revolutionscartoons. Ein Gaddafi-Kopf mit Militärmütze ragt aus einer Toilette. Saif al-Islam, dem man einen Kinderkörper verpasst hat, sitzt schreiend auf einer Rakete. Auf einem anderen Bild: Vater und Sohn mit der Schlinge um den Hals. Dritter im Bunde ist Khamis, ein anderer der acht Söhne des Diktators. Zwei maskierte Männer rechts und links suggerieren: Alle drei Gaddafis werden gleich gehängt.
Vom Trubel und der Verherrlichung der Diktatur vergangener Tage ist nur noch das gelbe Stahlgerüst geblieben. Der Diktator wollte über den gut 300 Meter großen Platz das größte Poster der Welt spannen. Natürlich ein heroisches Porträt seiner selbst. "Damit nicht genug", sagt der Bauingenieur. "Zu Tausenden hätte man Gaddafi-Bilder verteilt und dazu das Grüne Buch." Es sei ein furchtbares, vollkommen verrücktes Werk, erklärt der Mrayed, der mit seinen 65 Jahren schon in Rente sein könnte, aber noch als Büromanager bei Worly Parsons, einer kanadisch-australischen Firma, arbeitet. "Man kann das Geld in jedem Alter gebrauchen", rechtfertigt er sich schmunzelnd.
Das Grüne Buch ist ein dreiteiliges Werk Gaddafis, mit dem er der Mao-Bibel nacheifern wollte. 1975 wurde das Grüne Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Es versprach als "universelle Theorie" die "Lösung aller ökonomischen und sozialen Probleme". 1978 wurde das Werk Gaddafis zur Gesetzesgrundlage. Im Ausland wurde danach von einem islamischen Sozialismus gesprochen. "Das ist doch alles Quatsch", erwidert Mrayed sichtlich aufgebracht. Der libysche Staat sei nicht islamischer als andere arabische Länder, in denen der Islam in der Verfassung steht. "Und das Grüne Buch stiftete nur Chaos."
Privateigentum sei sozialisiert worden. Die Wohnungen gehörten plötzlich den Mietern. Arbeitslöhne wurden in zwölf festgelegten Stufen ausbezahlt. "Ein Minister verdiente 450 Dinar (225 Euro) und ein Arbeiter, in der niedrigsten Stufe, bekam 30 Euro. Und wenn nach sechs oder sieben Jahren erhöht wurde, dann um 50 Cent oder einen Euro." Ein Lohnsystem, das eine epidemische Korruption kreierte.
Das Forschungs- und Studienzentrum des Grünen Buchs steht noch. Zwischen Radio Tripolis und einem Mütter-und-Kind-Heim, von denen Nato-Bomben Trümmerberge zurückließen. Die Möbel der Bibliothek und des Lesesaals, mit 46 individuellen Studierplätzen, sind ganz in Gaddafi-Grün gehalten. Wie in anderen ehemaligen Staatsgebäuden des Regimes ist alles drunter und drüber. Die Computer sind verschwunden. Nur noch einige Verbindungskabel hat man am Boden liegen lassen. In einem alten Gästebuch dankt am 19. März 1998 ein deutscher Kulturverein "für den Empfang und die wichtige Information", die man hier erhalten habe. Ein "Konzelmann" hat die Widmung geschrieben. Es folgen die 16 Unterschriften der Teilnehmer.
"Die Revolution ist ein neuer Anfang", sagt Mrayed überzeugt. "Wir werden der demokratischste Staat unter allen arabischen Ländern werden. Ein Musterbeispiel." Eine grobe Vorstellung vom neuen Libyen geben die Richtlinien des Nationalen Übergangsrats (NTC) für die Nachkriegszeit. Das demokratische System soll auf Parteienpluralismus und Parlament beruhen. Islam wird Staatsreligion, die Scharia, das islamische Rechtssystem, soll Gesetzesgrundlage werden. Als Allererstes müsse es eine "Erklärung der Befreiung" geben. Danach soll eine "Öffentliche Nationale Versammlung" folgen. Sie fungiert als Übergangsregierung und ernennt ein Gremium, die eine neue Verfassung erarbeitet.
Klingt gut, aber alles hängt noch in der Luft: Der Fahrplan in die Demokratie ist ohne die "Erklärung der Befreiung" nicht möglich. Und diese ist wiederum, wie der NTC-Vorsitzende Abdel Mustafa Jalil bestätigte, von der Verhaftung oder dem Tod Gaddafis abhängig. Sein Regime ist gefallen, aber der Diktator beeinflusst noch die Geschicke Libyens. Aus seinem Versteck heraus hat er erbitterten Widerstand gegen die Aufständischen angekündigt und erneut geschworen, sich niemals ergeben zu wollen.
Seine Söhne, Seif und Saadi, versuchten sich ebenfalls in die Zukunft Libyens einzumischen. Seif drohte auf dem syrischen TV-Sender al-Rai via Telefon, er werde den Grünen Platz zurückerobern. Saadi behauptete dagegen auf dem Nachrichtenkanal al-Arabija: Er wolle vermitteln und das Blutvergießen beenden.
"Ach, das sind die letzten, verzweifelten Zuckungen der Gaddafis", kommentiert Bauingenieur Mrayed und nimmt einen Schluck Kaffee. "Widersprüchlicher könnten sie nicht sein. Sie sind am Ende."