Der Hamburger Chirurg Hannes Pietschmann operierte einen Monat lang in einem Lazarett in der libyschen Rebellenhochburg Misrata.
Vielleicht gehört es zu den ungelösten Rätseln menschlichen Lebens, einfach mal Dinge zu tun, die irgendwie ziemlich verrückt erscheinen. Wenn man etwa mit 65 Jahren meint, die grausame Wahrheit des Krieges einmal aus nächster Nähe erfahren zu müssen, und sich bewusst dem Risiko aussetzt, zum Beispiel von einer Mörsergranate getötet zu werden.
Bei Dr. Hannes Pietschmann war es ähnlich, als er sich Anfang dieses Jahres dazu entschloss, all sein Wissen und Können, das er sich in seinen gut 40 Berufsjahren als Chirurg und Orthopäde angeeignet hatte, einer Hilfsorganisation zur Verfügung zu stellen. Für 900 Euro Aufwandsentschädigung sowie bei freier Kost und Logis bei Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontieres, kurz MSF) anzuheuern und vier Wochen Urlaub von seinem Job in einer Praxis zu machen. Sich einen Monat lang in einen Konflikt einzumischen, der ihn ja eigentlich nichts anging. Jedenfalls nicht direkt. Wobei Hannes Pietschmann, ein mittelgroßer, drahtiger Mann mit flinken Augen, Miles-Davis-Fan und Hobby-Eisenbahner, unumwunden zugibt, dass neben der finanziellen Transparenz der MSF auch ein gewisser Grad von Abenteuerlust für sein Engagement ausschlaggebend gewesen sei. Schon immer habe er sich für Entwicklungshilfe interessiert, sagt er, aber jeder Chefarzt habe ihm früher davon abgeraten, denn junge Ärzte, die mit freiwilligem Verzicht auf Privatpatienten ihre Karriere hinauszögerten, hätten in der elitären Zunft einen schwereren Stand.
Nun aber habe er sich endlich alt und erfahren genug gefühlt, um sich nichts mehr vorschreiben zu lassen. Unter Hamburgs politisch engagierten Ärzten kennt man Pietschmann schon länger als kompromisslosen Vertreter der "freien Ärzteschaft", die am liebsten gegen die "rationierte Staatsmedizin" wettert. In Berlin, wo neben Bonn die zweite deutsche Dependance der MSF sitzt, kam es gut an, dass Pietschmann als langjähriger diensthabender Arzt in der Ambulanz des Hamburger Hafenkrankenhauses bereits mit Schusswunden konfrontiert worden war. Er habe eine Menge Fragen zu seiner Qualifikation beantworten müssen, sagt er. Später, in der zweiten Fragerunde in Paris, habe man auch herauszufinden versucht, ob seine Psyche stabil genug sei für einen Einsatz in Kriegsgebieten. Er hätte nach Haiti gehen können, doch er entschied sich spontan für Misrata, wo am 15. Februar der "Arabische Frühling" angekommen war, der vom Gaddafi-Regime niedergeknüppelt wurde. Die Sitzblockierer mutierten zu bewaffneten Rebelle, und so erwuchs rasch ein Bürgerkrieg, in dem seit dem 19. März dieses Jahres auch die Nato mitmischt. Doch noch haben die Luftangriffe auf Gaddafis Truppen nicht die beabsichtigte Wirkung erzielt.
Hannes Pietschmann enthält sich gemäß des Credos von MSF jedes politischen Kommentars. Verwundet und gestorben werde ja sowieso auf beiden Seiten der unübersichtlichen Front, sagt er. Außerdem sei die Organisation auch in Tripolis im Einsatz, versorge verwundete Regierungssoldaten, sodass die strikte Neutralität auch als Schutzmechanismus zu betrachten sei.
Das Team, dem Pietschmann angehörte, trat im April im Hafen von La Valletta auf Malta die letzte Etappe seiner Reise in den libyschen Bürgerkrieg an. An Bord des nur 16 Meter langen Fischerboots befanden sich Mike, ein amerikanischer Gefäßchirurg (70 Jahre), der irakische Chirurg Haidar (56 Jahre) Pedro, Anästhesist aus Kuba (48 Jahre); dazu ein paar weitaus jüngere Krankenschwestern aus Irland, Neuseeland und Australien und Algerien sowie mehrere Techniker. Pietschmann passte altersmäßig gut ins Team, und er erfuhr, dass die Kollegen aus ähnlichen Gründen da waren wie er.
Ihr Ziel hieß also Misrata, die 3000 Jahre alte libysche Handelsmetropole, 210 Kilometer von Gaddafis Hauptquartier entfernt, nur etwa 20 Kilometer von der Front, Hochburg der Rebellen, eine wohlhabende Stadt mit heute gut 260 000 Einwohnern. Die, wie man hörte, unter Beschuss der Gaddafi-Artillerie stand. Das Ärzteteam war zunächst jedoch nur froh, nach 22 Stunden in rauer See wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Fast alle an Bord hätten massiv unter der Seekrankheit gelitten - Pietschmann, Freund der plastischen Schilderung, spricht jedoch lieber vom "kollektiven Kotzen".
Als die humanitären Helfer entleert und dementsprechend hungrig durch die Stadt fuhren, bei angenehmen 28 Grad, sahen sie sofort, dass das öffentliche Leben in Misrata in Deckung gegangen war. Überall ruhte die Arbeit, die meisten Geschäfte waren verbarrikadiert und die zahlreichen Baustellen verwaist, da die paar Tausend Gastarbeiter, die zumeist aus den ehemaligen Ostblockländern und Griechenland stammten, mit Ausbruch des Krieges das Land verlassen hatten. Doch an jedem Gebäude wehte trotzig eine Fahne der Rebellen. Die Stimmung in der ganzen Stadt sei gegen Gaddafi gerichtet gewesen, sagt Pietschmann.
Die Neuankömmlinge wurden im Stadtteil Qas Ahmed nahe dem Hafen in zwei großzügigen Villen untergebracht, deren ins Ausland geflohene Besitzer den Rebellen nahestanden. In Pietschmanns Zimmer befand sich eine Matratze auf dem Boden, mit einer Decke drauf, sonst nichts. Die nahe Klinik, in der die MSF bereits zwei Operationssäle eingerichtet hatte, war eines von acht Krankenhäusern in der Stadt und auf Frauenheilkunde und künstliche Befruchtung spezialisiert gewesen. Manchmal hörte man das Grummeln von der Front, sagt Pietschmann, aber die Angst sei abstrakt gewesen. Trotzdem verschalten die mitgereisten Techniker die Fenster der Klinik und der MSF-Unterkünfte mit Holz und schichteten Sandsäcke auf. Ein paar Tage später würde er seine schusssichere Weste anlegen und einen Helm aufsetzen, aber das, erzählt er etwas verlegen lächelnd, sei bloß für ein Erinnerungsfoto geschehen. Während seines Aufenthalts habe er zum Glück nur ein paarmal in Deckung gehen müssen.
Am Abend der Ankunft feierten sie dann noch ein improvisiertes Abschiedsfest mit dem Ärzteteam, das sie ablösten. Sie feierten ohne Alkohol, dafür aber mit reichlich Reis und Nudeln, was beides in den kommenden vier Wochen abwechselnd von irgendwoher geliefert werden sollte; stets mit einem Stück Schaf- oder Hammelfleisch in Stanniolpapier gewickelt. Auch die Verpflegung fürs Personal wurde von wohlhabenden Unterstützern der Demokratiebewegung gespendet.
Schuss- und Splitterverletzungen seien für Chirurgen stets eine qualitative Herausforderung, sagt er, der gleich am nächsten Tag zu operieren begann, die erste von etwa 300 Operationen, wobei er mit seinen Kollegen das unerfahrene einheimische Krankenhauspersonal, in der Hauptsache Medizinstudenten, aus- und fortbildete; primär, was die sterile Wundversorgung betraf. Das A und O bei den Fällen, die auf seinem Tisch landeten, sei das Säubern der Wunde und das Entfernen zerfetzten Gewebes und verkohlten Fleisches gewesen, "Debridement" genannt - mit dem Ziel, den Heilungsprozess anzukurbeln, eine sekundäre Infektion des gesunden Gewebes zu verhindern und so eine vielleicht tödliche Sepsis zu verhindern. Wenn beispielsweise ein Granatsplitter ein faustgroßes Stück Fleisch aus einem Unterschenkel herausreißt und die Knochen freilegt, sei die Infektionsgefahr besonders hoch. Erst später könne man deshalb die Transplantation von körpereigenem Gewebe, Muskeln, Sehnen und Haut ins Auge fassen.
Die meisten Verwundungen registrierten die Ärzte an Armen und Beinen. Ab und zu lagen jedoch auch Kämpfer auf dem Tisch, die 30, 40 Granatsplitter im Körper trugen. Da würden dann nur die Splitter rausgeholt, die lebenswichtige Organe oder Blutgefäße getroffen hatten oder später zu Beschwerden führen könnten.
Die Hauptlast des Krieges liegt auf den Schultern der Bodentruppen. Und was den libyschen Rebellen an schweren Waffen fehlt, versuchten sie, durch Kampfeswillen und Tapferkeit wettzumachen. So könne er sich gut an einen älteren, weißhaarigen Mann erinnern, einen ortsansässigen Rebellen mit Schulterdurchschuss, der ihn direkt nach dem Aufwachen aus der Narkose gefragt habe: "Doktor, wann darf ich wieder kämpfen?" Als er diese Anekdote erzählt, kapituliert erstmals seine selbst verordnete Neutralität - und weicht einen Moment lang uneingeschränkter Bewunderung. Nächstes Jahr will er nach Lateinamerika. Pietschmann sagt, er habe jetzt Blut geleckt.