Libyen soll ein demokratischer und gemäßigt islamischer Staat werden. Viel Arbeit bleibt, schon gibt es erste Kritik von Amnesty.

Tripolis. Libyen soll nach dem Willen des Übergangsrates ein gemäßigter islamischer Staat werden. Ziel sei es, einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen, in dem die islamische Rechtsprechung Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung sei, versprach der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, während seiner ersten öffentlichen Rede vor tausenden Anhängern in Tripolis. Die neue Regierung werde keine extremistische Ideologie von links oder rechts akzeptieren. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat die Aufständischen am Dienstag kritisiert.

Amnesty warf den Rebellen vor, sie würden Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen nur mit Unwillen verfolgen. Nach dem Ausbruch des Aufstands gegen den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi im Februar hätten Oppositionskämpfer tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger des Gaddafi-Regimes sowie ausländische Söldner entführt, willkürlich festgehalten, gefoltert und getötet. Möglicherweise seien auch Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden. „Es sind weder unabhängige oder glaubwürdige Ermittlungen vom Übergangsrat veranlasst worden noch Maßnahmen, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen“, heißt es in dem Bericht.

Nach dem Ende von 42 Jahren brutaler Unterdrückung und nach fast sieben Monaten Bürgerkrieg steht der Übergangsrat aus Sicht von AI vor großen Herausforderungen. „Die neuen Autoritäten müssen mit den Missständen der vergangenen vier Jahrzehnte vollständig Schluss machen und neue Standards setzen, mit den Menschenrechten im Mittelpunkt“, sagte Claudio Cordone von AI. Die Verantwortlichen für Grausamkeiten unter dem Gaddafi-Regime müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Es müssten aber für Verbrecher auf beiden Seiten die gleichen internationalen Standards gelten, sonst drohe ein Teufelskreis aus Gewalt und Vergeltung.

Der Chef des libyschen Übergangsrates, Dschalil, appellierte am Montagabend an seine Anhänger, das Gesetz nicht in die eigene Hand zu nehmen und auf Vergeltung gegen Mitglieder des Gaddafi-Regimes zu verzichten. Zugleich beendete der 59-Jährige in seiner Grundsatzrede alle Spekulationen, dass Libyen auf dem Weg zu einem streng islamischen Land sei. „Wir sind ein muslimisches Volk, für einen moderaten Islam und wir werden auf diesem Weg bleiben“, sagte er nach Angaben des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira. „Wir werden keine extremistische Ideologie von rechts oder links zulassen.“

Während der Übergangsrat das neue Libyen immer weiter gestaltet, gehen die Kämpfe gegen die letzten Hochburgen des untergetauchten Diktators Muammar al-Gaddafi weiter. Die Rebellen haben nach eigenen Angaben den Stadtrand von Bani Walid eingenommen. Die Wüstenstadt liegt rund 150 Kilometer südlich von Tripolis. Außer Bani Walid werden auch Sirte, die Geburtsstadt Gaddafis, die Oase Dschufra und die Garnisonsstadt Sebha von Gaddafi-Kämpfern kontrolliert.

Derweil endete die Flucht des Gaddafi-Sohnes Al-Saadi in das Nachbarland Niger nicht in der Freiheit. Der 38 Jahre alte ehemalige Fußballprofi sei von den Behörden in Niger festgenommen worden, berichtete Al-Dschasira. Die nigrische Regierung stehe in einem Konflikt. Einerseits sei sie der Gaddafi-Familie dankbar dafür, dass sie einen Bürgerkrieg im Land beendet habe. Andererseits wachse internationaler Druck, den Gaddafi-Sohn sowie Anhänger des Ex-Diktators auszuliefern. 32 Mitglieder aus dem engsten Führungszirkel sollen durch die Wüste nach Niger geflüchtet sein.

Der Liveticker zum Nachlesen

16.09 Uhr: Nach dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International vor einer Spirale der Gewalt gewarnt. In Libyen nutzten auch die Gaddafi-Gegner das derzeitige Vakuum der Staatsmacht für Rache und Folter, erklärte Amnesty.

15.23 Uhr: Die Nato weiß nicht, ob Gaddafi noch in Libyen ist. „Wir haben keine sicheren Informationen über seinen Aufenthaltsort“, sagte Nato-Militärsprecher Roland Lavoie in Neapel vor Journalisten. „Um ehrlich zu sein: Wir wissen nicht, ob er das Land verlassen hat.“

15.04 Uhr: Der Übergangsrat verspricht Rechtsstaatlichkeit und will zugleich die Scharia als Quelle der Gesetzgebung. Für den Rechtswissenschaftler und Islamkenner Mathias Rohe muss dies nicht von vornherein ein Widerspruch sein. Das islamische Recht könnte mit Inhalten gefüllt werden, die mit den Uno-Menschenrechten kompatibel seien, sagte der Jura-Professor der Universität Erlangen-Nürnberg im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Man könne „aus der Fülle der möglichen Interpretation der Scharia diejenigen auszuwählen, die mit rechtsstaatlichen Ideen kompatibel sind“.

14.26 Uhr: Nato-Kampfflugzeuge haben nach Angaben des Bündnisses eine Reihe von Zielen in den noch von Gaddafi-treuen Einheiten gehaltenen Städten angegriffen. Dabei seien eine Radarstation, 13 Boden-Luft-Raketensysteme und Abschussvorrichtungen, ein gepanzertes Fahrzeug und zwei Kommandofahrzeuge nahe Sirte, der Heimatstadt Gaddafis, getroffen worden, teilte die Nato am Dienstag mit.

12.56 Uhr: Drei ranghohe Generäle des bisherigen Machthabers Gaddafi haben in Niger über eine Anerkennung als politische Flüchtlinge verhandelt. Das teilte ein an den Gesprächen beteiligter Vertreter der nigrischen Stadt Agadez mit. Dort hielt sich demnach noch immer Gaddafis Sohn al-Saadi auf. Die Generäle trafen Montagabend in der Hauptstadt Niamey ein. Bei ihrer Ankunft hätten Mitglieder des Konvois ihre Waffen abgeben müssen, sagte der Gewährsmann. Führer der Volksgruppe der Tuareg drängen die nigrische Regierung demnach, einer offiziellen Aufnahme der früheren Gaddafi-Getreuen zuzustimmen.

11.43 Uhr: Nach dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat nun auch die Weltbank den Übergangsrat in Libyen als legitime Regierung anerkannt. „Wir sind bereit, dem libyschen Volk zu helfen“, teilte die Organisation mit. „Unsere Experten haben bereits angefangen, sich mit ihren Partnern abzusprechen und arbeiten daran, schnell die Arbeit aufzunehmen.“ Die Anfragen aus Libyen beträfen insbesondere die Wasser- und Energieversorgung sowie den Transportsektor. Der IWF hatte den Rat am Sonnabend anerkannt.

10.36 Uhr: In Libyen sind einem Zeitungsbericht zufolge Dutzende ausländische Söldner hingerichtet worden, die auf Seiten Gaddafis gekämpft hatten. Die Zagreber Zeitung „Vecernji List“ berichtete von zwölf Serben, neun Kroaten, elf Ukrainern und zehn Kolumbianern. Sie seien nach der Niederlage der Gaddafi-Verbände in Misrata im Mai von den Rebellen gefangen genommen, in Schnellverfahren abgeurteilt und erschossen worden, berichtete die Zeitung unter Berufung auf einen libyschen Augenzeugen auf ihrer Website. In Libyen gab es immer wieder Hinweise darauf, dass die Gaddafi-Truppen durch Söldner aus dem Ausland verstärkt wurden.

Ein kürzlich entdecktes Video zeigt den libyschen Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi beim Herumalbern mit zwei kleinen Jungen, bei denen es sich offenbar um seine Enkel handelt. Das 32 Sekunden lange Video wurde auf einem Computer im Haus von Gaddafis Sohn Hannibal entdeckt und lag der Nachrichtenagentur AP vor. Hier können Sie es sehen. Wann die Aufnahmen entstanden, ist unklar. Das Video wurde offenbar in einem geräumigen Zelt mit grünem Teppich gedreht. Das Video zeigt Gaddafi offenbar beim muslimischen Gebet in der Hocke sitzend auf einem Gebetsteppich. An einer Stelle verdeckt er sich spielerisch mit seinen Händen das Gesicht. Links und rechts von ihm sind zwei Jungen im Alter von etwa drei und fünf Jahren. Alle drei beugen sich nach vorn, bis sie mit der Stirn den Boden berühren. Als sich die Kinder anschließend wieder aufrichten, salutieren sie. Gaddafi beugt sich nach vorn und gibt jedem der beiden Jungen einen Kuss auf die Wange. Sehen Sie hier ein Video, das Gaddafi im Jahr 2005 mit seiner Familie in privater Umgebung zeigt .

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) hat derweil den Rebellen Unwillen bei der Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen vorgeworfen. Nach dem Ausbruch des Aufstands gegen Gaddafi im Februar hätten Oppositionskämpfer tatsächliche oder vermutete Anhänger des Gaddafi-Regimes oder ausländische Söldner entführt, willkürlich festgehalten, gefoltert und gemordet, teilte Amnesty International in London mit.

Möglicherweise seien auch Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden. „Es sind weder unabhängige oder glaubwürdige Ermittlungen vom Übergangsrat veranlasst worden, noch Maßnahmen, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen“, heißt es in dem Bericht. Libyer schwarzafrikanischer Herkunft sowie aus den Regionen Tawargha und Sabha oder den Gaddafi-Hochburgen Sirte und Bani Walid seien weiterhin besonders durch Racheakte gefährdet, warnten die Menschenrechtler. Nach ihrer Schätzung sind die meisten der in Gefangenenlagern in Tripolis und al-Sawija festgehaltenen Ausländer keine Söldner, sondern Wanderarbeiter.

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In den Tagen des Aufstands hätten funktionierende Institutionen gefehlt. Das Vakuum hätten die Anti-Gaddafi-Kämpfer ausgefüllt, die ohne Training und Erfahrung sowie ohne Aufsicht oder Verantwortlichkeiten vorgingen. Rebellenführer hätten Amnesty gegenüber die Verbrechen zwar verurteilt, aber auch kleingeredet und angesichts der Verbrechen der Gaddafi-Truppen teils als „verständlich“ bezeichnet.

Der libysche Übergangsrat will einen Rechtsstaat errichten. Das versprach der Vorsitzende des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, nach Medienangaben bei seiner ersten öffentlichen Rede vor Tausenden von Anhängern in Tripolis. Ziel sei es, einen Rechtsstaat, einen Sozialstaat, einen Staat aufzubauen, in dem die islamische Rechtsprechung Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung sei.

„Wir werden keine extremistische Ideologie von rechts oder links zulassen“, sagte Dschalil nach Angaben des US-Nachrichtensenders CNN. Er forderte Einigkeit und sprach sich gegen Hass und Neid aus. Außerdem dürften die Menschen das Gesetz nicht in die eigene Hand nehmen. „Wir sind ein muslimisches Volk, für einen moderaten Islam und wir werden auf diesem Weg bleiben“, sagte Dschalil nach Angaben des arabischen Nachrichtensender al-Dschasira weiter. (abendblatt.de/dapd/dpa/rtr)