Das Gefängnisdrama „Un Prophèt“ von Jacques Audiard liegt zwar seit Tagen bei vielen Kritikern vorn, aber deren Liebling erhält an der Croisette in der Regel nur selten eine der begehrten Goldenen Palmen.
Cannes. Die Geschäfte haben in diesem Jahr beim Filmfestival in Cannes unter der Krise gelitten – die Kunst aber nicht. Der Wettbewerb um die Goldene Palme bot die nötigen „Aufreger“, nur wenige „Einschläfer“ und viele interessante, schöne Werke auf hohem Niveau. Nun ist die Spannung groß, wem die Französin Isabelle Adjani an diesem Sonntagabend den Hauptpreis übergeben wird.
Favorit in den täglichen Kritikerumfragen ist seit Tagen „Un Prophèt“ von dem Franzosen Jacques Audiard, ein hartes, präzises Drama über die Strukturen des organisierten Verbrechens in einem französischen Gefängnis. Doch der Kritikerliebling findet in Cannes nur selten den Weg zur Palme.
Falls Jury-Präsidentin Isabelle Huppert ihren Anspruch durchsetzt, „Filme sollten zum Nachdenken anregen“, dann wäre ein Preis für ihren Freund Michael Haneke und seinen deutschen Film „Das weiße Band“ wahrscheinlich. Spröde, aber mit nachhaltiger Intensität inszeniert er eine Geschichte über Dorfkinder, die die überkommenen autoritären Ideale ihrer Eltern auf grausame Weise verabsolutieren. Die Grundlage für Terror und Gewalt liegt in der Perversion von Werten, lautet Hanekes subtil übermittelte Botschaft: Eine „Intelligenz-Palme“ für den Österreicher.
Gäbe es eine „Schönheitspalme“, ginge sie vielleicht an Tsai Ming-Liang aus Taiwan. „Visage“ („Gesicht“) bietet zwar keine herkömmliche Geschichte und kaum Dialoge, aber betörende, atemberaubende Bilder, die wie surreale Gemälde komponiert sind. „Visage“, mit einem berührenden Auftritt des früheren Truffaut-Stars Jean Pierre Léaud und dem Ex-Model Laetitia Casta, ist der erste Film eines Kinoprojektes des Louvre-Museums in Paris.
Von den vier bisherigen Palmen-Gewinnern im Wettbewerb kann sich nach Meinung der Kritik vor allem die Neuseeländerin Jane Campion mit dem hoch poetischen Liebesdrama „Bright Star“ Hoffnung machen. Quentin Tarantino konnte mit „Inglourious Basterds“ seinen Geniestreich vor 15 Jahren mit „Pulp Fiction“ nicht wiederholen, hätte für seinen energetischen Auftritt aber einen „Stimmungspreis“ verdient. Ken Loach gebührt mit der Komödie „Looking For Eric“ höchstens ein „Preis der fröhlichen Herzen“.
Der Däne Lars von Trier bescherte dem Festival mit „Antichrist“ den Film, über den auch noch auf nächtlichen Champagner-Partys am Strand am meisten gestritten wurde. Seine Schauspielerin Charlotte Gainsbourg empfiehlt sich nach dem Durchleiden des von Trierschen Alptraums für einen „Tapferkeitspreis“ als beste Darstellerin.
Von den männlichen Schauspielern drängt sich beim Gedanken an eine Auszeichnung Christoph Waltz auf, der bisher vor allem als Charaktermime im deutschen Fernsehen bekannt war. Er hat die internationale Chance genutzt und Tarantinos Film als charismatisch widerlicher SS-Offizier vom ersten bis zum letzten Akt seinen Stempel aufgedrückt.
Und die Krise in Cannes? Gerade am Anfang fehlte die Starpower, aber das Autorenkino, das einige Kritiker vorher angesichts neuer kreativer Ausdrucksformen in der Internetwelt für „ausgestorben“ erklärt hatten, zeigte sich noch ziemlich lebendig.
Als kommerzieller Toptrend spielte sich durch den Eröffnungsfilm „Oben“ das neue 3D-Kino in den Vordergrund. Der Internationale Filmmarkt während des Festivals klagte allerdings über extreme Zurückhaltung bei Käufen und neuen Abschlüssen. Manche Produzenten befürchten jetzt, dass sie ihre Filme nach Cannes nur zu „Outlet“- Preisen loswerden.