Ihr Gesicht dominierte die Plakate und Titelblätter von Anfang an: In “Los Abrazos Rotos“ wird die Spanierin Penélope Cruz zur unwiderstehlichen Mischung aus Ingrid Bergman und Audrey Hepburn. Ein Festival-Film, der Lust aufs Leben macht.
Cannes. Erst schien es, als habe das Festival die Krise als Ehrengast auf die Croisette geladen. Aber vor Ort wurde sie dann von den gewichtigen Filmen, Premierenpartys und roten Teppichen verschluckt. Cannes bleibt Cannes. Die Feier geht weiter. Ein Gesicht dominierte die Plakate und Titelblätter von Anfang an - so, als würden Publikum und Presse die strapaziöse Festival-Odyssee nur auf sich nehmen, um schließlich bei Penélope Cruz im neuen Almodóvar-Film Anker zu werfen.
Der Spanier Pedro Almodóvar muss - anders als manche Kollegen - seine Heldinnen nicht erniedrigen, um das Publikum zu rühren. Die vom Festival so sehnlichst erwartete Penélope Cruz steigert sich in "Los Abrazos Rotos" zu einer unwiderstehlichen Mischung aus Ingrid Bergman und Audrey Hepburn. Als Sekretärin Lena wird sie in den 90er-Jahren die Gespielin ihres reichen Bosses, aber träumt von einer Schauspielkarriere. Als sie sich in den Regisseur ihres ersten Films verliebt, löst sie eine Lawine von Eifersucht aus, die sie schließlich mitreißen wird und den Regisseur erblinden lässt.
Almodóvar verstrickt seine Lust am Melodram einer Leidenschaft mit dem Blick auf die eigene Rolle als Filmemacher. Wieder treiben Schicksalsschläge Almodóvars Figuren durch eine Handlung voller Rückblenden - zeitweilig ein wenig mechanisch und weniger emotional als sonst. Almodóvars Menschen lieben, leiden, trauern, lügen, weinen - und machen sich schuldig.
Der künstlerische Leiter Thierry Frémaux hatte das Festival erstmals mit einem Animationsspektakel, "Up", eröffnet, ansonsten blieben die großen Hollywood-Produktionen zu Hause. Stattdessen lud Cannes viele alte Bekannte von Michael Haneke und Lars von Trier über Jane Campion bis zu Quentin Tarantino ein. Von Anfang an dominierten die dunklen Seiten der menschlichen Seele - so, als wolle das Autorenkino sich in Diagnose und Therapie des Schmerzes gleichzeitig versuchen.
Francis Ford Coppola zeigte - nur in einer Nebenreihe des Festivals - sein psychologisches Puzzle "Tetro" über die Versuche eines verkrachten Schriftstellers (Vincent Gallo), aus dem Schatten seines genialischen Tyrannen-Vaters zu treten, als vielschichtig-barockes Eigenporträt von Segen und Fluch, Teil einer Künstlerdynastie zu sein. Ang Lee hat sich dagegen in seiner Wohlfühl-Komödie "Taking Woodstock" ganz der Utopie einer friedlichen Welt verschrieben. Ein verklemmtes Muttersöhnchen organisiert vom elterlichen Motel aus den Aufbau des Woodstock-Festivals und lässt sich von den Ereignissen überrollen. Ang zeigt schelmisch, wie er die Aufbruchsstimmung durch Sex und Drogen am eigenen Körper erlebt, und feiert Woodstock in starken Bildern als eine kurz strahlende Hoffnung auf eine andere Gesellschaft.
Der französische Regisseur Jacques Audiard wagt in "Un Prophète" einen palmenverdächtigen Parforceritt durch die Hölle der Gefängnisse. Mit einem dokumentarischen Blick für Details, bestechenden Schauspielern und Bildsprache erzählt er, wie der kleine Gangster Malik im Gefängnis von der Korsen-Mafia rekrutiert wird und sich durch die blutigen Aufträge immer weiter abhärtet und zum Chef eines verzweigten Kartells aufsteigt. Der Knast als Schule für das kriminelle Leben? Problematisch bleibt, wie Audiard seine immer skrupelloser werdende Figur als alltäglichen Anti-Scarface zum Action-Helden stilisiert - ohne dabei zu der ihn umgebenden Gesellschaft oder zu sich selber Stellung zu beziehen.
Ganz anders Brillante Mendoza von den Philippinen: Er zeigt in "Kinatay" in dunklen, fragmentarischen Bildern, wie ein junger Polizeischüler wider seinen Willen durch korrupte Kollegen in den bestialischen Mord an einer Prostituierten verwickelt wird. Anders als bei Audiard bleibt der junge Mann passiv und macht sich dadurch zum Komplizen des Grauens. In den langen Szenen, beinahe ohne Dialoge, entsteht der mentale Abstieg eines Menschen in das Böse, der Verlust seiner Ethik, eine packende Reise in die Hölle auf den Spuren Dostojewskis.
Das Festivalthema Schuld ohne Sühne erreicht seinen bisherigen Höhepunkt in Lars von Triers "Der Antichrist". Sein hochstilisierter Film, Ergebnis einer zweijährigen Depression, ist zugleich Selbstkasteiung und Rachefeldzug. Schon im Vorwort beginnt seine Psycho-Fabel mit einem Totschläger: Während ein Paar Sex unter der Dusche hat, stürzt dessen kleines Kind aus dem Fenster. Schuldbeladen zieht sich das Paar zur Verarbeitung von Trauer, Schmerz und Verzweiflung in eine Holzhütte in den Wald zurück. Dort werden der Therapeut (Willem Dafoe) und seine traumatisierte Frau (Charlotte Gainsbourg) sich in einer bestialischen Natur zerfleischen, quälen, kastrieren. Bis der geschundene Mann über seine nymphomanisch gewordene Hexe siegt. Dennoch stecken in seinem verquasten Feldzug gegen das Weibliche grausame Wahrheiten über die Intimität einer Beziehung. Dass sich von Trier dabei ausgerechnet an Frankreichs schüchternem Liebling Charlotte Gainsbourg vergriffen hat, gibt dem chaotischen Trümmerwerk seines "Antichristen" ätzende Schärfe.
Anders als der sadistische von Trier kann Pedro Almodóvar seinen Figuren trotz ihres Schmerzes die Schuldgefühle nehmen. Streckenweise (in einem Film im Film) findet er dabei sogar zur Leichtigkeit seiner Komödien à la "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" zurück. Bei Almodóvar können Sünder beichten. Katharsis erfahren. Wieder Lust auf die Liebe, auf das Leben bekommen. Das macht ihn neben Ken Loach und Jacques Audiard zum bisherigen Festivalliebling. Auch wenn die Goldene Palme noch auf sich warten lässt.