Hamburg. Der Weg aus der Schule führt wieder häufiger zum Militär. Die Gründe? Von Bedrohungsgefühl und persönlichem Wachstum.

  • Nur notfalls im Einsatz: „Freizeitsoldaten“, alias Heimatschützer
  • Warum der Heimatschutz in Hamburg so viel Zulauf hat wie sonst nirgends
  • Nach dem Abi zum Militär: So begründet Mira ihren Schritt

Vermutlich ist es mehr als eine bloße Ahnung, dass der Verteidigungsfall wahrscheinlicher wird. Insbesondere seit Putins Russland die Ukraine vor bald 1000 Tagen angegriffen hat, erscheint die Lage so unsicher wie seit Langem nicht mehr. Tritt der Ernstfall ein, nimmt Hamburg als europäisches Verkehrskreuz und Hafenstadt womöglich eine bedeutsame Rolle für das Verteidigungsbündnis Nato ein.

Umso mehr Verantwortung lastet auf jenen Hamburgern, die sich per Eid verpflichtet haben, im Ernstfall für ihr Land zu kämpfen. Auf lokaler Ebene sind das unter anderem die Heimatschützer des Landeskommandos Hamburg. Sie führten dieser Tage eine Übung für den Krisenfall im Hafen durch.

Der Heimatschutz bekommt gerade reichlich personellen Zulauf. Aber wieso entscheiden Menschen ausgerechnet jetzt – in Zeiten des bröckelnden Friedens – sich als Reservisten für den Krisenfall registrieren zu lassen? Das Abendblatt hat Neulinge nach ihrer Motivation gefragt.

Heimatschützer aus Hamburg: Reservisten unterstützen auch im Katastrophenfall

Reservisten sind salopp gesagt „Freizeitsoldaten“. Sie gehen ganz normalen Berufen nach und werden nur im Ernstfall beordert. Dazu muss kein Krieg ausgebrochen sein, Reservisten sind auch in der Katastrophenhilfe tätig, beispielsweise bei Überschwemmungen.

Wenn Obergefreite Mira nicht gerade in einer Uniform steckt, weil sie an Heimatschutz-Übungen teilnimmt, studiert die 22-Jährige. Sie entschied sich schon nach dem Abitur für den freiwilligen Wehrdienst im Heimatschutz. Das Modell nennt sich „Dein Jahr für Deutschland“ und umfasst eine siebenmonatige soldatische Ausbildung. Anschließend leisten die Soldaten einen sechsjährigen Reservedienst.

Reservisten der zweiten Heimatschutzkompanie des Landeskommandos Hamburg bei einer Übung in der Hugo-Junkers-Kaserne in Alt Duvenstedt
Reservisten aus dem Heimatschutz des Landeskommandos Hamburg bei einer Übung in der Hugo-Junkers-Kaserne nahe Alt Duvenstedt. Sie trainieren für den Ernstfall. © HA | Anika Würz

„Ich wollte charakterlich wachsen“: Reservistin will Demokratie verteidigen

„Ich wollte charakterlich wachsen“, sagt Mira. „Direkt nach dem Abi zu studieren, das erschien mir zu ,schulisch‘.“ Durch den Einsatz von Reservisten bei der Flut im Ahrtal sei sie überhaupt auf die Idee gekommen, zur Bundeswehr zu gehen, und begann ihre Grundausbildung im Jahr 2022. Ihre Kommilitonen fallen häufig aus allen Wolken, wenn sie erfahren, dass Mira Reservistin ist, erzählt sie.

Ihr Vater habe den Wehrdienst seinerzeit verweigert, sagt Mira, „und dafür waren meine Eltern erstaunlich entspannt, als ich gesagt habe, dass ich zur Bundeswehr möchte“. Für die Soldatin bedeutet militärische Verteidigung in erster Linie die Verteidigung von Demokratie und Freiheit. Die freie Meinungsäußerung und die lang erkämpften Frauenrechte, „das alles wäre in Putins Wertvorstellung nicht mehr möglich. Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass uns das verloren geht – und dafür müssen wir alles geben“, findet Mira.

Hamburger lernt Heimatschutzkompanie bei Hafengeburtstag kennen

Für den Obergefreiten Benjamin ist der Reservistendienst eine Rückkehr. Der 40-Jährige hat vor rund 20 Jahren seinen Grundwehrdienst abgeleistet und anschließend „nur wenige Berührungspunkte mit der Bundeswehr gehabt“ – bis zum Hafengeburtstag im vergangenen Jahr, bei dem er an einem Informationsstand mit dem Landeskommando ins Gespräch kam. Erst seit Juli ist er Reservist in Hamburgs zweiter Heimatschutzkompanie, in seinem zivilen Leben ist der Luruper für die Solarbranche tätig.

Schon während seines Grundwehrdienstes bei der Luftwaffe habe er die Kameradschaft und den Zusammenhalt beim Bund zu schätzen gelernt. „Aber klar, jetzt ist die Lage eine andere als vor 20 Jahren“, das ist ihm bewusst. „Wenn es zum Ernstfall kommt, möchte ich etwas Gutes für die künftigen Generationen tun“, formuliert Benjamin seine Motivation, sich als Reservist verpflichtet zu haben.

Obergefreiter Benjamin, 41 Jahre alt, aus Hamburg; Reservist in der Heimatschutzkompanie beim Landeskommando Hamburg; hier bei einer Übung in der Hugo-Junkers-Kaserne in Alt Duvenstedt
Obergefreiter Benjamin aus Hamburg ist 20 Jahre nach seinem Grundwehrdienst als Reservist zurück zum Bund gekommen. © HA | Anika Würz

Erst Grundwehrdienst verweigert, dann 13 Jahre bei Bundeswehr verpflichtet

Auch Obermaat Jean-Luc aus Hamburg-Bergedorf ist Neuling als Reservist in der zweiten Heimatschutzkompanie. Nachdem er den Grundwehrdienst zunächst verweigert hatte, verpflichtete er sich später für 13 Jahre bei der Bundeswehr, musste aus persönlichen Gründen aber „die Reißleine ziehen“ und kündigen. Jetzt lebt er beide Leben, ein ziviles und ein soldatisches, als Reservist. „Für mich ist das Thema hier Verantwortung“, sagt der 34-Jährige. „Als ich Papa geworden bin, ist da so ein Schalter umgelegt worden.“

Der Heimatschutz nimmt für Jean-Luc auch deshalb eine besondere Rolle ein, weil er zugleich Katastrophenschutz bedeutet. Und geht es um den tatsächlichen Kriegsfall, bestärkt ihn „die Tatsache, dass wir ganz viel verlieren können“, dass so viel auf dem Spiel stehe, darin, das Land zu verteidigen.

Obermaat Jean-Luc, 34 Jahre alt, aus Hamburg; Reservist in der Heimatschutzkompanie beim Landeskommando Hamburg; hier bei einer Übung in der Hugo-Junkers-Kaserne in Alt Duvenstedt
Der Bergedorfer Obermaat Jean-Luc bei einer Übung in der Hugo-Junkers-Kaserne in Alt Duvenstedt. © HA | Anika Würz

„So einen Zulauf an Reservisten wie in Hamburg gibt es sonst nirgendwo“

Lange Zeit gab es nur eine Heimatschutzkompanie mit rund 120 Reservisten in Hamburg. Erst im März wurde die zweite in Dienst gestellt, die dritte soll noch im Herbst folgen und im kommenden Frühjahr bereits die vierte. „So einen Zulauf an Reservisten wie in Hamburg gibt es sonst nirgendwo“, sagt Oberstleutnant Jürgen Bredtmann, Sprecher des Landeskommandos.

Einerseits habe das mit gutem Marketing zu tun, andererseits seien viele der neuen Heimatschützer durch den Krieg in der Ukraine getriggert worden, erzählt Hauptmann Jan Hesselbarth, Chef der zweiten Heimatschutzkompanie. „Mit dem Krieg in Gaza kam noch ein Schwung Menschen. Viele von ihnen sagen: Sie sehen, dass die Freiheit leben zu können, wie man möchte, bedroht wird – und dass sie sie schützen wollen.“

Mehr zum Thema

Bundeswehr-Crashkurs: Ungediente nach drei Wochen schon Reservisten

Hesselbarth selbst war bis zu einem Sprungunfall Fallschirmjäger. Mittlerweile arbeitet er als selbstständiger Unternehmensberater in Hamburg und leitet „ganz nebenbei“ die zweite Heimatschutzkompanie. „Wir bei der Bundeswehr sind ein Querschnitt der Gesellschaft – immer noch. In meiner Kompanie ist unter 120 Menschen vom Aufsichtsratsvorsitzenden bis zum Arbeitslosen alles dabei.“

Hauptmann Jan Hesselbarth, 40 Jahre alt, aus Hamburg; Reservist und Chef der zweiten Heimatschutzkompanie beim Landeskommando Hamburg; hier bei einer Übung in der Hugo-Junkers-Kaserne in Alt Duvenstedt
Hauptmann Jan Hesselbarth ist Reservist und Chef der zweiten Heimatschutzkompanie beim Landeskommando Hamburg. © HA | Anika Würz

Die meisten Heimatschützer haben militärische Vorerfahrung, waren zum Beispiel einmal Zeitsoldaten oder Wehrpflichtige, sagt Sprecher Bredtmann. „Seit einer Weile können aber auch Ungediente zu Reservisten werden. Dazu müssen sie eine verkürzte Grundausbildung absolvieren.“ Ein entsprechender Intensivkurs von dreimal einer Woche findet in Nienburg (Niedersachsen) statt.

Landeskommando Hamburg: Bundeswehr hat 20.000 offene Dienststellen

Die komprimierte Ausbildung für Ungediente ist als eine von vielen Strategien der Bundeswehr zu begreifen, um dem Mangel an Soldaten entgegenzuwirken. Etwa 20.000 offene Stellen gebe es bundesweit, sagt Bredtmann, bei insgesamt 180.000 Soldaten. Ein gewichtiger Grund dafür ist die seit 2011 ausgesetzte Wehrpflicht.

Bredtmann plädiert angesichts der brenzligen Weltlage und dem Mangel an Soldaten für ein verpflichtendes Dienstjahr – nicht zwingend beim Militär: „Für eine Wehrpflicht fehlt derzeit die gesellschaftliche Mehrheit und eine intensive Diskussion, denke ich. Aber ich würde es persönlich gut finden, wenn jeder Deutsche etwas für Deutschland tut, für sechs bis zwölf Monate. Dafür muss nicht jeder zur Bundeswehr. Wir brauchen auch Menschen, die Krankenwagen fahren oder bei der Feuerwehr sind.“