Hamburg. Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über einen Zivildienst für alle.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob man wieder so etwas wie einen Zivildienst in Deutschland braucht – diesmal aber füralle.
Lars Haider: „Seit der Bundespräsident sich für einen sozialen Pflichtdienst ausgesprochen hat, sprechen auch viele andere in Deutschland darüber. Das Thema passt in eine Zeit, in der der Bundeskanzler sagt, dass wir uns „unterhaken“ müssen und in der der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist. Ein Pflichtdienst könnte dazu führen, dass Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, die sich vielleicht sonst nie getroffen hätten, miteinander zu tun haben und damit das Verständnis füreinander wächst. Das wäre das Gegenmodell zu der Welt der Blasen, in denen sich nicht wenige von uns befinden.“
Dieter Lenzen: „Ich bin sehr dankbar, dass der Bundespräsident dieses Thema aufgeworfen hat, hätte aber einen anderen Grund gefunden, um die Frage des Pflichtdienstes zu diskutieren. Nicht die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, obwohl der dadurch auch gefördert würde, ist mir wichtig, sondern eine andere, die sich in den kommenden Jahren massiv stellt: Hat die Gesellschaft Aufgaben, die sie nicht erfüllen kann, und müsste man Menschen, die in dieser Gesellschaft leben wollen, nicht an der gemeinsamen Bewältigung dieser Aufgaben beteiligen? Was uns zuerst einfällt, ist die Verteidigung unseres Landes, aber eben auch soziale Dienstleistungen, bei denen wir sofort in eine Debatte mit den Gewerkschaften kommen werden, deren Interesse natürlich ist, dass der Bedarf dort mit festen Arbeitsplätzen gedeckt wird. Aber die Frage ist, ob wir das tatsächlich noch können, ob es überhaupt noch die Personen gibt, die diese Arbeitsplätze haben wollen. Ich glaube, dass das in vielen Fällen gar keine Frage der Bezahlung mehr ist, sondern dass es darum geht, was man in den jeweiligen Berufen tun soll.“
„Das klingt danach, als glaubten Sie, dass man durch den sozialen Pflichtdienst den Fachkräftemangel und unsere demografischen Probleme lösen könnte. Wir laufen bekanntlich in eine Phase hinein, in der uns viele Arbeitskräfte fehlen, im Saldo bräuchten wir jedes Jahr rund 400.000 Zuwanderinnen und Zuwanderer in Deutschland, um die Lücken auszugleichen, die durch den Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge entstehen. Wenn wir jetzt, beispielsweise in der Betreuung von älteren Leuten, diese Lücken mit Pflichtdienstleistenden füllen, fehlen uns die entsprechenden jungen Menschen an anderen Stellen. Denn wir werden ja leider nicht mehr …“
Lenzen: „Mein Argument ist, dass es gesellschaftliche Funktionen gibt, für die zu wenig Interessenten vorhanden sind. Das ist keine demografische Frage, sondern eine Frage der Attraktivität dieser Funktionen. Wenn man die Menschen mit Geld nicht locken kann, bleibt nichts anderes übrig, als dass die Gesellschaft in den Pflichtmodus umsteigt und sagt: Das muss jetzt sein. Ich glaube nicht, dass die Frage heißt, ob wir einen sozialen Pflichtdienst brauchen, das ist eindeutig. Die Frage muss lauten, in welchen Bereichen wir diesen Dienst benötigen.“
„Sie sagen, worauf es auch dem Bundespräsidenten ankommt: Es soll mit dem Pflichtdienst signalisiert werden, dass jeder jenseits von Steuern und anderen Geldzahlungen an den Staat verpflichtet ist, sich in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Wenn man das verpflichtend macht, kann das aber auch die gegenteilige Wirkung entfalten. Soll heißen: Man ist sauer auf eine Gesellschaft, die einen zwingt, etwas zu tun, was man freiwillig niemals getan hätte.“
Lenzen: „Das stimmt, und das liegt daran, dass wir seit Jahrzehnten in Deutschland vom Individuum her denken, dass wir uns immer wieder gefragt haben, wie das Leben des Einzelnen noch besser werden kann. Die Vernachlässigung des Gemeinsinns muss zumindest teilweise aufhören, wir brauchen einen Ausgleich zwischen individuellen Interessen und gesellschaftlichen Bedarfen.“
„Zumal die Fixierung auf den Einzelnen zu einem der größten Probleme unserer Zeit geführt hat, nämlich zum Thema Einsamkeit.“
Lenzen: „Da ist was dran, besonders in den Städten. Ich lebe jetzt seit einiger Zeit auf dem Land und kann sagen, dass das Phänomen der Einsamkeit und Individualisierung hier nicht so besteht. Die Bereitschaft, sich freiwillig für andere einzusetzen, ist viel ausgeprägter als in der Stadt, und dadurch entsteht eine Art Angebot von wechselseitiger Hilfe. Wenn nebenan ein Problem existiert, fragt man selbstverständlich, ob man irgendwie helfen kann. In der Stadt kann diese Form der Nachbarschaftshilfe deshalb oft nicht funktionieren, weil man gar nicht sieht, dass der Nachbar ein Problem hat.“
„Auf dem Land weiß man auch: Wenn ich den anderen nicht helfe, hilft mir im Zweifel auch niemand.“
Lenzen: „Dieser Gedanke, der auch ein Tauschgedanke ist, spielt in der Welt, von der ich rede, keine Rolle. Die Selbstverständlichkeit ist so eingeübt, dass man nicht beim Helfen daran denkt, was man davon hat.“
„Das heißt, der Pflichtdienst ist etwas, was wir in den Städten brauchen, wo der Eindruck erzeugt wird, dass jeder machen kann, was er möchte?“
Lenzen: „Das ist die Verwechslung von Freiheit und Libertinage. Freiheit ist ein Recht, seine Individualität zum Ausdruck zu bringen, aber im Rahmen eines gemeinschaftlichen Verständnisses von Gesellschaft. Libertinage bedeutet: Es ist mir egal, was mit den anderen ist, ich mache, was ich will. Diese Unterscheidung ist nicht bei jedem Freiheitsfanatiker unmittelbar sichtbar.“
„Der Pflichtdienst wäre also ein Dienst, der die Menschen zurück in die Gesellschaft bringt und zwingt, soziale Wesen zu sein.“
Lenzen: „Das Wort ‚zwingt‘ ist natürlich genau das Problem. Man muss versuchen, Wege von Verbindlichkeit zwischen mir und den anderen zu finden, die es mir leichter machen, helfen zu wollen. Und das beginnt bei den Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung. Wir dürfen nicht so tun, als ob es in den Städten zum Beispiel keine Nachbarschaftshilfe gäbe, aber natürlich ist dort Luft nach allen Seiten. Grundsätzlich sollte man nicht bei der Pflicht ansetzen, sondern bei der Notwendigkeit.“
„Man setzt bei der Pflicht an, weil man weiß, dass Hinweise auf die Notwendigkeit wenig bringen. Ein einfaches Beispiel aus einem anderen Bereich: Jeder weiß, dass es gut und notwendig wäre, auf den Autobahnen nicht schneller als 130 km/h zu fahren, und dennoch machen das die meisten freiwillig nicht.“
Lenzen: „Eigentlich ist das, was Sie aufwerfen, eine Bildungsfrage. Unser Bildungssystem hat bisher vor allem vermittelt, welche Rechte man wie durchsetzen kann, und nicht, welche gesellschaftlichen Pflichten man annehmen muss. Das eine ist nicht gegen das andere auszuspielen, aber die Pflichten sind gegenüber den Rechten zu kurz gekommen.“
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„Die Frage ist auch: Pflicht für wen? Der Bundespräsident spricht von jungen Menschen. Man könnte doch auch sagen, dass jeder, der in dieser Gesellschaft leben will, bis zu einem gewissen Alter einen Dienst an der Allgemeinheit geleistet haben muss.“
Lenzen: „Die Vorstellung, dass dieses Pflichtjahr direkt nach dem Schulabschluss beginnt, ist falsch. Dann würde man nur junge Leute bekommen, die bestimmte Dinge können, andere aber nicht. Ich finde die Idee gut, dass es eine Verpflichtung zum Beispiel innerhalb von 50 Jahren gibt, Pflichtpakete zu absolvieren, das müssen nicht immerhin zwölf Monate am Stück sein. Wichtig ist: Pflichtdienst ist nicht gleichbedeutend mit einem Pflichtjahr für junge Leute.“