Hamburg. Die räudigen Rocker aus der Hauptstadt begannen im Bunkerclub reichlich spät – und wirkten nicht mehr so zwingend wie früher.
Konzerte, bei denen der Headliner um 22 Uhr oder 23 Uhr auf die Bühne schleicht, am besten nach zwei, drei Vorbands, sind zum Glück selten geworden. Die Fabrik und die Markthalle waren dafür notorisch bekannt, auch unter der Woche erst nach Mitternacht das Putzlicht anzuschalten und das Publikum rauszufegen. Mittlerweile gehen die Uhren in anders. Zumeist. Bei den Berliner Deutschrockern Milliarden am Donnerstag im Uebel & Gefährlich hieß es mal wieder auszuharren.
Milliarden ist unverschämt spät für 22 Uhr angekündigt, aber in der Heimat der beiden Milliardäre Ben Hartmann und Johannes Aue hat man ja keine Jobs, sondern Projekte, spaziert mit der Spiegelreflex durch Friedrichshain, fotografiert Street-Art und interessante Menschen (Grüße an Kraftklub!) und kann ausschlafen.
Aber was soll‘s, zumeist lohnt sich das Warten auf das live zum Quintett anwachsende Duo, das in Hamburg bislang auch an unrockbaren Konzertorten wie dem Musikpavillon in Planten un Blomen oder sogar in einem Kleinbus absolut überzeugte. Das war aber auch 2021, Milliarden waren mit dem dritten Album „Schuldig“ zum ersten Mal in den Top Ten und auf dem Weg, wie Wanda, AnnenMayKantereit oder zuletzt Provinz in die großen Hallen aufzusteigen.
Milliarden in Hamburg: Das neue Album „Lotto“ ist kein Hauptgewinn
Daraus ist nichts geworden. Die neue, vor zwei Wochen erschienene Platte „Lotto“ hat nicht mehr als drei Richtige, wirft wenig Gewinn ab – und im nicht ausverkauften Uebel & Gefährlich hat der unbekannte Nebenmann zum Glück genug Platz, um sich beim Auftaktlied „Das erste Mal“ spontan in den Gang zur Bar und an die Wand zu erbrechen. Je später der Konzertbeginn, desto mehr Zeit zum Vorglühen.
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Ben Hartmann könnte das gefallen. Er hat, wie er vor „Sag nie die Wahrheit“ erzählt, mal bei einer nachmittäglichen Routinekontrolle zugegeben, schon mal harte Drogen genommen zu haben („Kokain und Himbeereis“), und ein Jahr lang seinen Lappen abgegeben. Dafür ist Milliarden bekannt, Texte über Selbstzerstörung, Psychosen und „Betrüger“, präsentiert als Schrammelballaden, Holterdipolkas, Punk-Proletenpoesie und Kopfschmerzhymnen. Ton, Steine, Selig. Es riecht nach Cannabis. Besser als Kotze.
Milliarden im Uebel & Gefährlich: Geschminkt wie Turbonegro
Der Publikumshit „Katy Perry“ soll laut Hartmann 2015 in der Hamburger Koralle Bar entstanden sein, und man fragt sich, was die beiden damals nach Volksdorf verschlagen haben könnte. Gemeint ist wohl eher die KorallBar in der Simon-von-Utrecht-Straße. Und warum haben sie im Uebel & Gefährlich geschminkte Gesichter wie KISS oder Turbonegro? Aber es geht schnell Song auf Song weiter, von „Milliardär“ über das gemeinsam mit der Vorband Mola präsentierte „Himmelblick“ bis zu „Oh Chérie“, das auch noch mit „Du trägst keine Liebe in dir“ von Echt überzuckert wird.
„Geil, dass ihr auf Konzerte geht“, bedanken sich Hartmann und Aue und betonen die Wichtigkeit der Erhaltung von Clubs und Kulturräumen. Von daher ist es ganz gut, dass Milliarden nicht in die Sporthalle oder gar Barclays Arena vordringen. Insgesamt ist sie live weiterhin gut, aber zumindest im Uebel & Gefährlich fehlt es in den 100 Minuten an Abwechslung, Dynamik und zwingenden Songs wie dem Knaller „Trenn dich“, der wohl leider nicht mehr gespielt wird. Erst bei den beiden letzten Zugaben „Halt mich fest“ und „Sternenflimmern“ ist der Sound kompakt und wuchtig, aber da ist es auch schon kurz vor Mitternacht. „Geht noch schön feiern!“, ruft Hartmann. Alter, dit is nicht Berlin hier!
Setliste
Das erste Mal
Sag nie die Wahrheit
Betrüger
Mantel
Psychose
Katy Perry
Wenn ich an dich denke
Rosemarie
Wir haben es versucht
Im Bett verhungern
Milliardär
Deine Musik
Ach Andi Ach
Himmelblick (mit Mola)
Fürcht‘ dich nicht
Freiheit ist ne Hure
Oh Chérie/Du trägst keine Liebe in dir
Kokain und Himbeereis
Berlin
Schall und Rauch
Halt mich fest
Sternenflimmern
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