Hamburg. Selbst der Sänger des Kölner Trios konnte es kaum fassen: 25.000 Fans feierten in Hamburg eine emotionale Pop-Party.
„Wohin du gehst, sagst du nicht mehr“, röhrt Henning May am Freitag auf der ausverkauften Trabrennbahn. Hmm. Eigentlich macht hier in Bahrenfeld niemand ein Geheimnis, wo man hingeht: zu AnnenMayKantereit.
Obwohl man sich fragt, was die alle dort zu suchen haben auf dem riesigen Gelände mit der ebenso riesigen Bühne, über die in den kommenden Tagen noch Deichkind, Cro und Fettes Brot toben. 25.000 Fans sind hier, „Nur wegen dir“, wie sie singen. Unfassbar eigentlich. „Das ist das größte Konzert, das wir je gespielt haben“, staunt auch May.
AnnenMayKantereit in Hamburg: Rekordkonzert mit Schrecksekunde
Klar, das Potenzial des um Bassistin Sophie Chassée, Bläserquartett und Streicher-Ensemble verstärkten Trios aus Köln war schon 2014 absehbar, als sie nur mit einigen Straßengigs und einem in Eigenregie und Kleinstauflage produzierten Album beim Reeperbahn Festival im Uebel & Gefährlich auftauchten. Die Reibeisenstimme und die romantisch-melancholischen Alltagshymnen von Henning May, Gitarrist Christopher Annen und Schlagzeuger Severin Kantereit hatten bei allen angebrachten Querverweisen auf Rio Reiser schon etwas sehr Uniques.
Aber dass diese Band in Zeiten des überpolierten Überpops mit doch sehr mundgebissen splitterigen Kompositionen 2016 mit dem Album „Alles nix Konkretes“ direkt an die Spitze schossen und auch die Bühnen in Hamburg schnell größer wurden (Freiheit, Sporthalle, Dockville), war doch nicht abzusehen. Von dem kommerziellen und kreativen Rückschlag mit dem fast schon avantgardistischen Lockdown-Album „12“ (2020) haben sich die drei jedenfalls schnell wieder erholt. Mit „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ ging es im März dieses Jahres wieder zurück nach ganz oben.
AnnenMayKantereit in Hamburg: 25.000 Fans begeistert
Trotzdem: 25.000 feiern Songs wie „Lass es kreisen“, „Pocahontas“, „Marie“ und „Vielleicht Vielleicht“, die eigentlich zusammen mit der spartanischen Bühnendeko (Podeste, Regenbogenflagge, den Tisch aus dem Proberaum, das war’s) eher in den Stadtpark gehören. Oder in eine Kneipe am Alten Markt in Köln, wo man nach dem achten Gläschen bierähnlicher Getränke unwillkommene sentimentale Nachrichten an das halbe Telefonbuch verschickt.
„Du tust mir nicht mehr weh“. Okay. Emotionen sind jedenfalls die gern angenommene Währung im Publikum. Die Stimmung ist beseelt, Arme kreiseln, Fanchöre steigen in die Refrains ein, Handys illuminieren das Geläuf. Auch eine schöne Geste: Annen, May und Kantereit überlassen ihren Begleit-Musikerinnen und -Musikern ein Lied lang die Bühne.
AnnenMayKantereit in Hamburg: Fans brauchen plötzlich Hilfe
Kurz unterbricht May den Song „Ozean“, um Ordner zu einer Gruppe Fans zu schicken, die Hilfe brauchen. Schrecksekunde. Aber schnell geht es weiter mit „Als ich ein Kind war“. „Jenny Jenny“, eine Ode an Flugbegleiterinnen grüßt nachträglich die startenden Jets („Winkt mal hoch!“), die aus Fuhlsbüttel kommend über die Trabrennbahn rauschen.
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„Und du wirst 21, 22, 23, du kannst noch gar nicht wissen, was du willst. Und du wirst 24, 25, 26, und du tanzt nicht mehr wie früher“, warnt May den überwiegend in dieser Altersklasse zu dieser auf Ska gebürsteten Nummer tanzenden Teil des Menschenmeeres. Das kurz darauf nachfolgende „Ich glaub, ich geh heut nicht mehr tanzen“ wird auch nicht sehr ernst genommen an diesem Freitagabend.
AnnenMayKantereit in Hamburg: „Danke fürs Mitsingen!“
Stattdessen ist nach den Zugaben „Barfuß am Klavier“ („Danke fürs Mitsingen!“) und „Tommi“ nach 90 Minuten beim letzten Lied „Ausgehen“ der Grundtenor spürbar bei vielen der 25.000 Fans: „Würdest du heute mit mir ausgehen? Ich würd dich auch nach Haus bringen. Ich weiß, du musst früh aufstehen.“