Hamburg. Die Hamburger feierten ihren 30. Bandgeburtstag angemessen mit dem ersten von zwei ausverkauften Konzerten in der Großen Freiheit.

Ach ja, Selig mal wieder. Nach drei Konzerten 2022 in Hamburg in der Fabrik und beim Hafengeburtstag füllen Jan Plewka und seine Jungs am Donnerstag (und Freitag) die Große Freiheit 36 und alles ist so normalschön. „30 Jahre und endlich unendlich“ werden auf dem Kiez mit 1500 Fans gefeiert, ein Prost auf die Gründung der Band 1993 und auf das Comeback-Album „Und endlich unendlich“, mit dem Selig 2009 eine zehn Jahre lange Pause beendete.

Selig in der Großen Freiheit: Heimspiel für Hamburger Band zum 30. Jubiläum

Aber wirft man dem Anlass entsprechend einen Blick zurück auf das Jahr 1993, dann wird wieder deutlich, welchen Stellenwert Selig eigentlich hat. Oder haben sollte: In den Jahrescharts 1993 findet man mit viel gutem Willen keine Handvoll Rockmusik in deutscher Sprache: Herbert Grönemeyer auf Platz 10 mit „Chaos“, dicht gefolgt von den Toten Hosen mit „Kauf mich“, und das war es auch. Klar, Peter Maffay hatte noch ein Tabaluga-Album zu bieten, und die Scorpions, Phillip Boa und Fury In The Slaughterhouse waren auch vertreten, aber die sangen auf Englisch. Was gab es noch? Fanta4 und Matthias Reim. War das bitter. Man will nicht wissen, wo Udo Lindenberg damals herumkrebste. Das weiß er wohl selbst auch nicht mehr. Ist auch besser so.

Und dann tauchte Selig auf. Die Hamburger Schule war noch im Kindergarten, Ahrensburg musste es richten. Jung. Verwegen. Ein Sound irgendwo zwischen Grunge und Vintage-Hippie-Rock, im Prinzip die deutsche Antwort auf Lenny Kravitz, der seinerzeit richtig durchstartete. Wobei bei aller Liebe Plewka dem Lenny in keiner Hinsicht das Wasser reichten konnte. Aber: Die drei Alben „Selig“ (1993), „hier:“ (1995) und „Blender“ (1997) zeigten Menschen um die 20: Es gibt ein Leben ohne Klaus Lage Band, BAP und Peter Müller-Gröneberg.

Selig in Hamburg: Es fühlt sich an wie 1993

Wahrscheinlich denken sich junge Menschen heute, es gibt ein Leben ohne Selig und hören Provinz, Trümmer oder Die Nerven, falls sie überhaupt was mit Gitarre hören. Auch klasse, aber 1993 gab es eben zumindest für den Mainstream-Konsumenten ohne Zugriff auf gut sortierte Plattenläden nur Matthias Reim und Metallica als absolute Pole und dazwischen wenig. Ist nicht böse gemeint, Matze Reim liebt Hardrock! In diese Nische, genau in die Mitte (ja, die gibt es!) zwängte sich Selig.

Aber genug sentimental zurückgeschaut, da vorne ist eine Bühne mit Jan Plewka am Mikro, Christian Neander an der Gitarre, Stoppel Eggert am Schlagzeug und Leo Schmidthals am Bass. Es ist wieder ein wenig 1993, die Freundin ist noch nicht weg und bräunt sich nicht in der Südsee. Und Selig sind keine Rockstars mehr, das waren sie kommerziell übrigens nie, aber sie benahmen sich vor 30 Jahren so, was auch zur Auflösung 1999 führte.

Fans von Selig bekamen bei Konzert in Hamburg eine Zeitreise in die 1990er

„Unsterblich“ sein und auch noch mit Glatze den „Arsch einer Göttin“ haben: „Seid ihr bereit mit uns heute Abend diese Reise zu bestreiten?“, fragt Plewka, erntet ein lautes „jaaah!“, und freut sich über Neanders Gitarrensound: „Ist das räudig.“ Er verströmt mehr Liebe als 500.000 Woodstock-Veteranen, sein Herz schlägt im roten Bereich. „Alles auf einmal“, „Alles ist nix“ und „Hey Ho“ klingen schön knuspernd, und auch wenn Engel laut Plewka kein Gedächtnis haben, kennen die 1500 immer noch jede Textzeile.

„Vielleicht stehen hier nur die Avatare von Selig“ wie bei ABBA in London, und der „Neuanfang“ 2009 war nur Budenzauber. Alle vier Jahre löst sich Selig türenknallend für eine Stunde auf. Aber es geht immer weiter, auch in der Freiheit. Es wird zurückgetanzt in die 90er mit „Lass mich rein“, lange abgedröhnt mit „High“ und weiter hoch zum „Mädchen auf dem Dach“, zum ersten Selig-Song überhaupt (geschrieben ein paar Meter weiter in der Seilerstraße) geklettert. 30 Jahre vergehen wie im Flug. Hui!

Selig lieferten 140 Minuten in der Großen Freiheit ab

Aus einem Lostopf mit Songtiteln wie bei Plewkas Barkonzerten wurde vorab angeblich „Hey, Hey, Hey“ gezogen, dann wird es Zeit für die ganz dicken Hitbrocken „Ist es wichtig?“ und nach „Myriaden“ vom gleichnamigen aktuellen Album von 2021 „Sie hat geschrien“, Lieder die bleiben „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Die Stimmung im Saal ist zwar kein kochender Schweißtümpel, aber auf angenehme Weise beseelt. Mitwippen und Mitklatschen geht immer, wenn Selig „Schau, Schau“ macht.

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Die Freiheit singt den Schlusschor von „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ bis zu den Zugaben weiter, ein toller Moment. Damit verdienen sich die Fans „Wenn ich wollte“, „Die Besten“ und natürlich „Ohne Dich“. Ist das die schlimmste Heulboje oder der schönste Liebeskummer-Song der 90er? Aber bevor man sich entschieden hat, ist die erste von zwei Geburtstagspartys nach 140 Minuten und „Wir werden uns wiedersehen“ scheinbar vorbei. Aber spontan wird auch noch das besinnliche „Wintertag“ angehängt. Ja, besten Dank und alles Gute, Selig. Bis in alle Ewigkeit.