Hamburg. Die Berliner Band spielte wie entfesselt beim Auftakt der Reihe „Draussen im Grünen“. 350 Fans feierten mit.

„Wir wollen mal wieder Menschen sehen und hören. Wir werden als ganze Gesellschaft noch eine Zeit lang sehr sensibel sein, aber sobald wir wieder etwas genießen dürfen, werden wir explodieren“, sagten Ben Hartmann und Johannes Aue im Februar bei ihrem letzten Auftritt in Hamburg.

Damals parkten die beiden Köpfe der Berliner Band Milliarden mit einem Mercedes-Sprinter vor dem Club Hebebühne in Ottensen und spielten im Transporter vor maximal erlaubter Zuschauerzahl: Eine Person durfte dabei sein, vom Duo mit einer Plexiglasscheibe getrennt. Ein Heizlüfter brummte mitleiderregend, als Hartmann und Aue mit klammen Fingern Songs des neuen dritten Albums „Schuldig“ akustisch präsentierten.

Milliarden geben Konzert in Planten un Blomen

Wie anders das Bild am Freitag in Planten un Blomen: Zum Auftakt der Reihe „Draussen im Grünen“ spielt Milliarden im Musikpavillon mit dem kompletten Rotzrock-Besteck, verstärkt durch drei weitere Musiker und gefeiert von 350 Fans.

Etwas mehr als 400 Menschen hätten Platz. Und da die Konzertagenturen schätzen, dass Bands derzeit zehn Prozent ihrer Tickets im Vergleich zur Zeit vor Corona absetzen, ist das schon ein kleines Woodstock.

September 2020 spielte Milliarden beim Reeperbahn Festival

„Wow, Fuck, das hat mir gefehlt, ich bin jetzt schon heiser. Der Abend kann nur gut werden“, freut sich Ben Hartmann nach den ersten Songs „Schuldig sein“ und „Rosemarie“ und erzählt, dass er seit einem Jahr nicht mehr auf der Bühne stand. Er vergisst oder unterschlägt dabei den Auftritt vor noch größerer Kulisse im vergangenen September auf dem Heiligengeistfeld beim Reeperbahn Festival, aber das ist vielleicht der Euphorie geschuldet.

Milliarden legt jedenfalls los wie entfesselt. „Die Fälschungen sind echt“, „Wenn ich an dich denke“ und „Betrüger“ knallen als ungeschliffene, grob abgebissene Rockkanten aus den Boxen. Das Publikum, platziert unter einer mächtigen Kastanie auf angerostetem Gestühl der Internationalen Gartenschau 1973, singt und klatscht mit. „Willkommen im Fernsehgarten“, scherzt Keyboarder Johannes Aue.

Krachender Vintage-Rock gehört in ausverkaufte Clubs

Natürlich gehört ein Lied wie „Himmelblick“ trotz seines Titels genauso in ein ausverkauftes, überkochendes Gruenspan oder Knust wie „Oh Chérie“ und „In deinem Bett verhungern“. Die Mischung aus Proto-Punk, Garagenkrach und den seligen Ton Steine Scherben, aus Lust, Alltagsfrust und Randale ist überhaupt nicht gemacht für die Kurkonzert-Atmosphäre von Planten un Blomen. Andererseits ist die an Kriegsdenkmäler in Titos Jugoslawien erinnernde Architektur des Musikpavillons auch ein schönes, ironisches Hipster-Statement: mehr Vintage geht nicht.

Sänger Ben Hartmann ist jedenfalls sehr schnell total von der Rolle. Er beschwört „Berlin“ und blickt in 350 ausgestreckte Hamburger Mittelfinger, solidarisiert sich mit den besetzten Häusern in der Rigaer Straße und hetzt auf der Bühne nach links und rechts. Aber nicht zu weit nach vorne zum Publikum: „Die Blume ist die Kante“, warnt er sich selber mit Blick auf die bunt bepflanzten Beton-Blumenkästen vor ihm. Willkommen im Fernsehgarten. Es wäre sehr lustig, in diesem Hospiz der ZDF-Unterhaltung mal Lieder wie „Kokain und Himbeereis“ oder „JaJaJa“ zu hören: „Ich hab so Lust mich zu verlieren, möchtest du mit mir randalieren?“

Die Hygieneregeln und das Tanzverbot werden gewissenhaft befolgt

Aber trotz des rebellischen Trotzes in „Ende Neu“ und „Freiheit ist ‘ne Hure“ randaliert niemand. Mögen auch viele Haare im Publikum blau, pink oder lila gefärbt sein, alles hat seine Ordnung. Gewissenhaft wird beim Gang zu den beiden Bars an der Seite oder zum beachtlich weit entfernten WC außerhalb des Bühnengeländes Maske getragen. Hände desinfizieren, Luca-App einchecken, Kontaktdaten hinterlassen - das kennt man hier schon. Im Gegensatz zum Beispiel zum „Strandkorb Open Air“ auf Steinwerder braucht man für „Draussen im Grünen“ derzeit keinen Schnelltest- oder Impfnachweis.

Aber Regeln hin und Regeln her, innerlich tobt und schreit das Publikum wie Milliarden: „Wir sind synchronisiert“. Noch letzte Woche quetschten sich Ben Hartmann und Johannes Aue in Leipzig in ihren Transporter, um für eine einzige Dame zu spielen. Aber jetzt, mit Luft nach oben und zu den Seiten muss es raus. „Die Gedanken sind frei“, singt Hartmann und kündigt an, auf Zugaben zu verzichten. Es wird einfach gespielt, bis nichts mehr geht. Der Rock, die Gitarren pulsen nach langer Entbehrung wie Starkstrom durch die Körper unter der zitternden Kastanie.

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Man kann jetzt ein wenig besser verstehen, warum die Fans von Bill Haley oder Rolling Stones seinerzeit die Konzertsäle in handliche Häppchen zerlegt haben: Es war allers so neu, so toll, wohin mit der Energie? Bei Milliardens letztem Song nach 90 Minuten stehen alle. „Trenn dich“ ist das fantastische Finale. Das Tanzverbot wackelt, die Augen der Ordner verengen sich zu Bunkerschlitzen. Dann ist es ... überstanden.

Über 30 Konzerte bei „Draussen im Grünen“

Aber es geht weiter. Bis Mitte September präsentieren Popup Records und OHA! Music bei „Draussen im Grünen“ noch 33 Konzerte und Shows. Songschreiberinnen und Songschreiber wie Sophia Kennedy und Alin Coen, Gisbert zu Knyphausen und Niels Frevert sind ebenso zu erleben wie Lieblingsbands von Antilopen Gang (bereits ausverkauft) bis Jupiter Jones. Der Himmel ist die Grenze. Die Blume ist die Kante.

„Draussen im Grünen“ Programm, Infos und Tickets unter draussenimgruenen.de