Hamburg. Hamburg–Berlin mit 430 km/h? Protestwelle gegen den Transrapid läuft 1996 auf Hochtouren. Viele fürchten die Enteignung ihrer Häuser.
Wer zuletzt die Nachricht gelesen hat, dass Hamburg tatsächlich überlegt, eine oberirdische Magnetschwebebahn von der S-Bahn-Haltestelle Stellingen bis zum Volksparkstadion zu bauen, wird sich mit großer Sicherheit und ein bisschen Angstschweiß an das Jahr 1996 erinnern, in dem bald wöchentlich über das Thema Transrapid gesprochen wird. Weil sich sämtliche Anlieger der geplanten Trasse nach Berlin um Lärm, Steuergelder, überhaupt den Bedarf und vor allem um ihre Grundstücke sorgen, die enteignet werden sollen.
Der Startschuss fällt vor gut 30 Jahren: Im März 1994 beschließt der Bund den Bau einer Magnetschnellbahn, die von Hamburg nach Berlin rauschen soll, in gerade einmal 53 Minuten. Der Bau einer 292 Kilometer langen Trasse (davon 131 Kilometer aufgeständert auf Betonpfeilern) soll eine Geschwindigkeit von bis zu 430 Kilometern pro Stunde ermöglichen. Bis zu dem Zeitpunkt gibt es nur eine Testschleife im Emsland.
Hamburger Osten kämpft gegen gigantisches Bahnprojekt Transrapid
Basis für den Entschluss ist das Finanzierungskonzept einer Unternehmensgruppe von Thyssen, Siemens, Daimler-Benz und AEG. Als Betreiber soll die Deutsche Bahn fungieren, die jährlich tatsächlich 14,5 Millionen Passagiere zwischen Hamburg und Berlin auf zwei Spuren hin- und hertransportieren will. Zu Spitzenzeiten ist ein Takt von zehn Minuten vorgesehen, ansonsten alle 20 Minuten.
Das Mega-Projekt soll laut Magnetbahn-Planungsgesellschaft (MPG) 8,9 Milliarden D-Mark (4,55 Milliarden Euro) verschlingen – glauben die Planer zunächst. Mit Blick auf Kosten und Nutzen kritisieren Bundesrechnungshof und Forschungsinstitute schon früh eine Unverhältnismäßigkeit. Doch entgegen aller Warnungen vor dem „Milliardengrab“ rechnet Verkehrsminister Matthias Wissmann mit einem Baustart in 1998 und meint, finanzielle Risiken seien nicht auszuschließen. Es sei aber sogar auch möglich, dass der Bau billiger werde als veranschlagt, so der CDU-Politiker, der von einem „Pioniergeist“ schwärmt und der „technischen Meisterleistung“. Schließlich sollen Elektromagnete das Fahrzeug von unten an den Fahrweg ziehen und es in einem Abstand von zehn Millimetern in der Schwebe halten.
Transrapid: Zwei Trassen sind im Gespräch
Die Entwürfe für eine Magnetschwebebahn sehen eine Station an der Südseite des Hamburger Hauptbahnhofs vor. Der Bahnsteig soll auf gleicher Höhe wie die des Regional- und Fernverkehrs liegen, sodass Passagiere leicht umsteigen können. In Moorfleet sollen Reisende dann an einer zweiten Station ein- und aussteigen. Erst ab dem Autobahnkreuz Hamburg-Ost soll der „Wunderzug“ östlich der A1 schwenken und mit Höchsttempo südlich der A24 über Glinde und Reinbek auf sagenhafte 430 Kilometer pro Stunde beschleunigen, anschließend mit dieser Geschwindigkeit durch Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern rauschen. Nächster Halt ist also erst wieder Schwerin. Denn anders als Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau ist Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (beide SPD) gegen das Milliardenprojekt.
Neben dieser Nordtrasse entlang von A1 und A24 kommt auch immer wieder eine mögliche Südroute ins Spiel, wonach die Bahn durch die Marschlande sausen würde, Eigentümer im Bereich Pollhof und Curslacker Heerweg enteignet werden könnte, ebenso Häuser der Siedlergemeinschaft Eschenhof geopfert werden müssten. Von dort ginge es weiter bis nordwestlich Geesthacht parallel zur A25, dann klettert der Verlauf zwischen Escheburg und Geesthacht auf die Geest, kreuzt dabei die B5, überspannt zudem nördlich von Düneberg die B404.
Transrapid: Große Demonstration in Bergedorf
Mehr als 50 Bürgerinitiativen und Verbände, darunter etwa zahlreiche Umweltschützer, die Kirchengemeinde Allermöhe sowie die Bürgerinitiativen „Aktion Lärmschutz Autobahn 25 – Stoppt Transrapid“ sowie „Mittlerer Landweg 1996“ (milan 95) rufen am 16. März 1996 zum großen Protestmarsch auf, erwarten mehr als 3000 Menschen auch aus angrenzenden Regionen, die sich in Nettelnburg, am Sander Markt und am Frascatiplatz sammeln, auch mit Traktoren aus den Vier- und Marschlanden. Andere Trecker aus Barsbüttel, Reinbek und Glinde legen unterdessen laut hupend die K80 lahm.
Und sogar mit der Dampflok Karoline reisen 250 Demoteilnehmer aus Geesthacht an. „Ob Nord, ob Süd: Transrapid is Schiet“, steht auf ihren Protestplakaten. Oder auch: „Sutje leben statt rapid schweben.“ Vor St. Petri und Pauli spricht Allermöhes Pastor Hans-Jürgen Preuß von „schönfärberischen Hochglanzbroschüren, die uns Planer und Politiker andienen wollen“ – und fordert Hamburgs Senat auf, sich von dem Projekt zu verabschieden.
Transrapid: Auch Ferdinand Fürst von Bismarck wehrt sich
Unterstützung kommt von der Gewerkschaft der Eisenbahner, die eine Schienenverbindung als billiger und sicherer sieht, nicht zuletzt Arbeitsplätze erhalten will. Und schon jetzt ist die Strecke mit dem ICE innerhalb von zweieinhalb Stunden zu erreichen. Auch der SPD-Parteirat plädiert mit großer Mehrheit gegen das Transrapid-Bedarfsgesetz. Doch die Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und FDP beschließt das Projekt im Bundestag. Im Juni gibt auch der Bundesrat sein Okay.
Inzwischen wehrt reichlich Gegenwind, will auch Ferdinand Fürst von Bismarck den Transrapid „auf allen Klagewegen“ verhindern, um den 5300 Hektar großen Familienbesitz im Sachsenwald zu schützen: Man sei nicht bereit, Grundstücke zur Verfügung zu stellen, und Enteignungen würden Jahre dauern.
Transrapid: Trasse braucht angeblich keinen Schallschutz
Zudem gibt es unfassbare Berechnungen zum Lärmschutz: Laut MPG brauche es nur für elf Kilometer zusätzliche Schallschutzmaßnahmen, weil zwischen Glinde und Reinbek einige Häuser nur 25 Meter von der Trasse entfernt stünden. So lässt es sich auch in den Planzeichnungen und zehn Aktenordnern einsehen, die im August und September 1996 in der Gesamtschule Mümmelmannsberg ausliegen sowie im Allermöher Schultrakt am Billwerder Billdeich. Der BUND klagt, dass acht Wochen für eine Prüfung der Unterlagen nicht reichten, zumal im Dezember noch immer nicht klar ist, ob die Schwebebahn vom Hauptbahnhof über die Vier- und Marschlande Richtung Mecklenburg führen wird oder über die nördliche Trasse via Glinde entlang der A24.
Inzwischen drängt auch Politiker und Industrie der zeitliche Aspekt: Durch eine inzwischen zweijährige Verzögerung müsse nun die alte Teststrecke in Lathen modernisiert werden und das Zulassungsverfahren erneut absolvieren, für 343 Millionen Mark.
Transrapid: Zehn Jahre später ist alles aus
Noch viel Zeit über das Jahr 1996 hinaus fordert die Geschichte um die Magnetschwebebahn: Laut einem Eckpunktepapier aus dem April 1997 werden die Kosten nun schon vor Baubeginn auf insgesamt 9,8 Milliarden Mark geschätzt. Ein Jahr später sollen es noch einmal bis zu 2,8 Milliarden Mark mehr werden. Im März 1999 reicht der BUND gegen das Projekt Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein.
Als schließlich auch Bahnchef Hartmut Mehdorn massive Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des Transrapid äußert, wird am 5. Februar 2000 das Aus für die Strecke Hamburg–Berlin beschlossen. Bis dahin haben Entwicklung und Planung bereits 2,35 Milliarden Mark gekostet. Zudem hat die Industrie weitere 470 Millionen Mark investiert.
Das endgültige Ende aber bedeutet ein schweres Unglück mit 23 Toten auf der Teststrecke am 22. September 2006: Der Zug prallt mit mehr als 160 Stundenkilometern auf einen Werkstattwagen. Erst Ende 2011 wird die Versuchsstrecke stillgelegt. Danach sorgt deren Abbau für Streit über die Kosten, die auf 40 Millionen Euro geschätzt werden.
Bergedorf 1996: Der „Hundebaum“ wird zur Sackgasse
Aber noch weit andere Verkehrsthemen berühren die Bergedorfer im Jahr 1996. So etwa der zeitgleiche Ausbau (samt Elektrifizierung des Fern- und Regionalverkehrs) der Bahnstrecke Hamburg–Berlin. Der Lärm beschäftigt vor allem die Anlieger vom „Hundebaum“, die bei den Nachtarbeiten zwischen Chrysanderstraße und Möörkenweg bis zu 100 Dezibel messen. Samt einer Bahnbrücke über die Bille entsteht hier (statt des Bahnübergangs in Höhe Schillerufer/Daniel-Hinsche-Straße) nun ein Tunnel für Fußgänger und Radler. Denn wenigstens die dürfen hier künftig noch queren, während sämtlicher Autoverkehr abgeschnitten wird, die Zufahrt von Lohbrügge hinter der Wilhelm-Bergner-Straße endet.
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Wenig Mühe geben sich derweil die Verkehrsbetriebe Altona-Kaltenkirchen-Neumünster (AKN) mit der Schadensbeseitigung am Bahnübergang Curslacker Heerweg – trotz defekter Asphaltdecken und weggesackter Betonplatten zwischen den Gleisen. „Bei uns sind Kacheln gerissen, Uhren fallen von den Wänden“, so die lärmgeplagte Anwohnerin Anke Wales am 30. August in der Bergedorfer Zeitung, während die AKN „keine relevanten Mängel“ feststellen kann, dennoch wenigstens die Zwischenräume ausgießen, den Asphalt erneuern will.
Unterdessen gibt das Eisenbahnbundesamt grünes Licht für einen neuen S-Bahnhof Allermöhe, denn inzwischen leben schon 2400 Menschen in Neuallermöhe, wo Hamburg zudem gerade zehn Millionen Mark in Parks und Erholungsflächen wie die „Grüne Mitte“ steckt: Schon 1998 soll die S21 im Neubaugebiet halten, wird ein 15 Meter breiter Tunnel zum geplanten Stadtteil Oberbillwerder führen. Gleichzeitig wird für 25 Millionen Mark die neue Aus- und Abfahrt zwischen Neuallermöhe und Nettelnburg an der Marschenautobahn gebaut. Noch im April 1996 beschwören CDU und SPD in der Bergedorfer Bezirksversammlung das Thema Oberbillwerder: „3000 Wohnungen sollen es bleiben“, in zwei- bis viergeschossigen Häusern.
Bergedorfer retten das Bille-Bad
Währenddessen tut sich ein Protest gegen die mögliche Schließung des maroden Bille-Bads auf, werden mehr als 500 Unterschriften gesammelt: Ein neues Bad an der Peripherie in Oberbillwerder könne nicht die zentrumsnahe Schwimmhalle ersetzen, heißt es im November 1996. Der Elternrat der Grundschule Sander Straße denkt dabei auch an die Fahrtkosten für Schwimmschüler. Die Bäderland GmbH hatte darauf hingewiesen, dass es am Reetwerder keinen Platz für eine Erweiterung gebe. „Wir können nicht alle Bergedorfer zum Baden in das Neubauviertel schicken“, meint Herbert Paege (CDU), kann sich einen Neubau an der Ecke Stuhlrohrstraße/Kampdeich vorstellen.
Längst schon ärgert sich in diesen Zeiten Bezirksamtschefin Christine Steinert über den Senatsbeschluss, die Bergedorfer Verkehrsabteilung künftig dem neuen „Landesbetrieb Verkehr“ zuzuordnen – nachdem bereits auch schon Stadtentwässerung und Stadtreinigung sowie das Kataster- und Vermessungsamt aus der Zuständigkeit der Bezirke herausgenommen wurden.
Serie 150 Jahre bz: Diese Verbrechen erschüttern die Region 1996
Ist das Jahr 1996 noch mit einem fröhlichen Eisvergnügen auf der Hamburger Außenalster gestartet, interessieren sich die Bergedorfer alsbald schon mehr für Mord und Totschlag: Da ist zum einen der „Heidemörder“ Thomas Holst (31), der drei Frauen umgebracht hatte und aus der Psychiatrie des AK Ochsenzoll geflüchtet ist.
Zum anderen wird der 43-jährige Jan Philipp Reemtsma am 25. März vor seinem Haus in Blankenese 33 Tage lang entführt, fordern die Täter erst 20, dann 30 Millionen Mark Lösegeld. Die Soko 962 verfolgt rund 900 Hinweise, nachdem sie eine Zeichnung des Kellers veröffentlicht hatte. Der Soziologe und Multimillionär darf in seinem Geiselversteck (es wurde schließlich in Garlstedt geortet) 18 Bücher lesen, darunter Dostojewski, Jaspers, Sloterdijk und Aufsätze von Karl Kraus. Die Polizei interessiert jahrelang eher der Name Thomas Drach: Der Drahtzieher (36) der Entführung wird schließlich erst im März 1998 in einem Hotel in Argentinien geschnappt.
Tresor mit Leichenteil gibt Rätsel auf
Rätsel gibt der Polizei auch ein grausiger Fund am Hower Hauptdeich auf: Im Deichvorland findet ein Spaziergänger (40) im August einen kleinen Tresor, der den Kopf eines Menschen enthält, stark verwest in einer Tüte. Nur wenig später ist die Identität geklärt, handelt es sich wahrscheinlich um einen 30-jährigen Chilenen, dessen verstümmelter Körper im November 1994 in Brandenburg gefunden worden war. Dem Opfer, das mutmaßlich im Auftrag von Drogenhändlern unterwegs war, fehlten Kopf und Hände.
1996: Bergedorfer Polizist erschossen – Trauer ist riesengroß
Vor weiteren traurigen Nachrichten kann die Bergedorfer Zeitung auch 1996 ihre Leser nicht verschonen: Unfassbar traurig empfinden die Bergedorfer den Mord an Matthias Schipplick, dessen Bild noch bis heute auf der Bergedorfer Wache hängt: Am Tag seines 34. Geburtstags, am 16. August 1996, stoppt der Polizeihauptmeister auf der Billwerder Straße einen weißen Golf, will die Papiere des Fahrers kontrollieren. Während deren Überprüfung tritt der Golf-Fahrer an den Streifenwagen heran, schießt und marschiert davon. Die alarmierten Kollegen finden den Täter (65) schließlich in einem Gebüsch nahe der Krusestraße, die Pistole noch in der Hand. Schipplick, dessen Hirntod die Ärzte im UK Boberg feststellen, hinterlässt Ehefrau Andrea sowie zwei Söhne im Alter von acht und zehn Jahren, Pit und Rouven.
Neuallermöhe soll Polizeiposten bekommen
„Wir trauern“, heißt es beim Schweigemarsch der Polizisten am 21. August, der etwa 2500 Menschen vom Polizeipräsidium an den Gänsemarkt führt. Einen Tag später, bei der Trauerfeier im Hamburger Michel, spricht Bürgermeister Henning Voscherau von einem „kaltblütigen und hinterhältigen Verbrechen“. Von einer „menschenverachtenden, absurden Tat“ redet Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD). Die Überführung des Sargs zum Bergedorfer Friedhof wird von einer Polizei-Motorradeskorte begleitet. Nur wenige Monate später übrigens wird in Bergedorf die Zusammenlegung von 140 Schutz- und 25 Kriminalpolizisten bekannt, soll in Neuallermöhe eine Außenstelle „bis in die Abendstunden“ besetzt werden.
Und noch ein großer Trauerfall, mit einem Gedenkgottesdienst, ebenfalls im Michel: Am 13. Oktober stirbt im Alter von 82 Jahren Henri Nannen an Krebs. Der langjährige Chefredakteur und Herausgeber des Magazins „Stern“ wird von 1200 Menschen verabschiedet, unter anderem von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, von den Verlegern Hubert Burda und Rudolf Augstein sowie dem Journalisten Peter Scholl-Latour.
Riesenparty: 50 Jahre Hauni
Die Hamburgische Universelle (Hauni), inzwischen bekannt als Hauni-Maschinenbau AG mit einem Umsatz von 1,02 Milliarden Mark, feiert ihr 50-jähriges Bestehen in gigantischem Format: 7000 Menschen, darunter 2500 Hauni-Mitarbeiter, laufen über einen roten Teppich zur „Fantasy World“ auf dem Parkplatz an der Kampchaussee, einer 14.000 Quadratmeter großen Zeltstadt. Hier treten im zwölfstündigen Programm die Hamburger Philharmoniker (mit Musik von Mendelssohn) ebenso auf wie das Ensemble des Thalia-Theaters (Shakespeares Sommernachtstraum in Co-Produktion mit der Staatsoper) und Ober-Ostfriese Otto Waalkes, der „Ich bin ein kleiner Friesenjunge“ singt. Zur Sechs-Millionen-Mark-Einladung an die „Hauni-Familie“ zählen allein neun Tonnen Lebensmittel und Getränke. Die gewaltigste Party, die Bergedorf erlebte, bietet sowohl ein „französisches Dorf“ als auch Chinatown samt einem ganzen Heer von Gauklern und Kleinkünstlern.
Kartografen nicht mehr erwünscht
Ein anderer 50. Geburtstag ist weniger erfreulich. Unter dem Titel „Erst gefeiert, dann gefeuert“ berichtet die Bergedorfer Zeitung am 16. Februar über den 50. Geburtstag des Falk-Verlages und die neuerlichen Pläne, dass Europas größter Stadtplan-Produzent 43 Kartographen entlassen will. Im März demonstrieren sie vor dem Werkstor: „Wir lassen uns nicht zusammenfalten.“ Der Vorstandsvorsitzende indes erklärt, die Kartographie werde gerade von Handzeichnung auf Computer umgestellt. Der Verlagssitz bleibe indes am Gleisdreieck in Bergedorf: „Wir haben noch nie so viel zu tun gehabt wie jetzt.“ Eine Übernahme durch Bertelsmann weist er im Februar 1996 noch weit von sich.
Doch im selben Jahr 1996 verkaufen Alexander Falk, damals 26 Jahre alt, und seine Schwester Janina Falk ihre ererbten Anteile am Kartografie-Verlag für 50 Millionen Mark an die Bertelsmann AG. Mit seinem Anteil am Verkaufserlös gründet und kauft Alexander Falk anschließend mehrere Unternehmen aus dem Bereich der New Economy und avanciert zu einer der zentralen deutschen Figuren am Frankfurter Neuen Markt. Zeitweilig wird er zu den 100 reichsten Deutschen gerechnet. Der Höhenflug endet 2003 mit einem Haftbefehl wegen Betrugs und Bilanzfälschung.
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Nach einem mehrjährigen Mammutprozess im Mai 2008 wird er zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er Ende 2000 seine Firma Ision zu einem überhöhten Preis an das britische Unternehmen Energis verkauft hatte. Der Betriebswirt hatte den Wert seiner Internet-Firma durch Scheinrechnungen manipuliert, um einen höheren Verkaufspreis zu erzielen, wie das Gericht damals urteilt. Die englische Energis zahlte laut Urteil mindestens 30 Millionen Euro mehr, als es dem Marktwert entsprach.
Bergedorf 1996: Kliniken und Kaufhäuser fusionieren
Unterdessen erfahren alle Bergedorfer noch im Jahr 1996 von der Fusion von Karstadt und Hertie mit einem nun gemeinsamen Geschäftsführer in der Bergedorfer Fußgängerzone. Eine weitere Fusion steht mit einem gemeinsamen Konzept von Bethesda und Allgemeinem Krankenhaus bevor. Das Berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus in Boberg kündigt derweil ein neues Zentrum für Schwerstbrandverletzte an, auch am seit jeher beengten Luisen-Gymnasium wird ein Grundstein gelegt: für einen dreigeschossigen Neubau für sechs Millionen Mark.
Weiter erfahren die Leser der Bergedorfer Zeitung 1996 vom neuen Theater der Lohbrügger Bürgerbühne am Neuen Weg und vom Brand im Dima-Sportzentrum am Havighorster Weg. Auch die umfangreichen Rückdeichungspläne der Hamburger Baubehörde bereiten den Bergedorfern große Sorgen. Frohlockend klingt dagegen eher die Nachricht des schwedischen Möbelriesen Ikea, der mit dem Hamburger Osten liebäugelt: Bergedorf, so Rathauschefin Christine Steinert, würde den „Kunden-Magneten“ sehr begrüßen.
Boehringer saniert für Millionen Euro
Im 13. Jahr der Sanierungsphase soll das ehemalige Werksgelände der Pharma-Firma Boehringer Ingelheim weiter saniert werden: Zu der bislang 254 Millionen Mark teuren Reinigungstechnik sollen auf der 8,5 Hektar großen Fläche weitere 65 bis 70 Millionen Mark in eine 1,2 Kilometer lange Dichtungswand investiert werden, die das Grundwasser vor Dioxin schützen soll.
Derweil torpedieren SPD und Grüne die geplante Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh: Er habe Zweifel, ob das Andenken an eine umstrittene Person wie Bismarck mit öffentlichen Mitteln gepflegt und eine reiche Familie alimentiert werden solle, sagt SPD-Vizefraktionschef Otto Schily, der den ersten deutschen Reichskanzler als „kein Ausbund an Demokrat“ beschreibt.
„Auch Männer können Mitfrauen werden“
Nicht nur im Seitenblick verfolgen die Bergedorfer die Ideen aus Hamburg, wo zum Beispiel gerade die „verlässliche Halbtagsgrundschule“ mit Unterricht von 8 bis 13 Uhr geplant wird, Auch interessant ist, dass Hamburg als letztes Parlament auf Länderebene den „Abschied vom Feierabendparlament“ feiert: Künftig sollen die bislang ehrenamtlichen 121 Abgeordneten 4000 Mark an Diäten plus eine Aufwandsentschädigung von 600 Mark erhalten. Schon bei der nächsten Bürgerschaftswahl will die neue feministische Partei „Die Frauen“ antreten. „Auch Männer können bei uns Mitfrauen werden“, erklärt Parteisprecherin Rita Saager und erläutert die Präambel: „Die Satzung ist in weiblicher Form gefasst. Sie schließt alle natürlichen Personen ein.“
Und zuletzt ein kurzer Blick auf die Politik in Europa: Am 25. Januar stimmt in Straßburg eine breite Mehrheit des Europarats für die Aufnahme Russlands als 39. Mitglied der Staatenorganisation. Die vorangegangene Debatte, so berichtet die Bergedorfer Zeitung, dreht sich zwar um Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, doch die Parlamentarier registrieren auch Fortschritte, „besonders hinsichtlich der Meinungsfreiheit“.