Bergedorf. In „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ ordnen Branchenexperten aktuelle Themen ein. Heute: Energiekrise und Energiewende.
Den einen schmerzen die derzeit hohen Energiekosten nur, einen anderen mögen sie erdrücken. Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan mahnt unterdessen zu Besonnenheit und gibt sich optimistisch. „Es gibt keinen Grund für Katastrophenstimmung, denn wir haben diese Krise gut im Griff“, sagt der Grünen-Politiker aus Bergedorf. „Wenn man mir vor einem Jahr gesagt hätte, dass von einem Tag auf den anderen etwa 55 Prozent unserer Gaslieferungen ausfallen, hätte ich gesagt: Dann gehen hier aber endgültig die Lichter aus. Aber das ist eben nicht passiert.“
Stattdessen sieht Kerstan Deutschland nun vor der Chance, die Energiewende mit Hochdruck voranzutreiben. Die momentan schwierigen Rahmenbedingungen, sie sollen quasi wie ein Turbo wirken. „Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist eigentlich der einzige Weg aus der Krise, und der muss sehr viel schneller und sehr viel energischer vorangetrieben werden“, sagt der Umweltsenator.
Gas und Strom nie wieder billig: Was ist das neue Normal?
Kerstan ist als erstes Senatsmitglied zu „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ gekommen, dem 60-minütigen Gedankenaustausch morgens um elf in den Redaktionsräumen der Bergedorfer Zeitung/Lauenburgischen Landeszeitung. Mit am Tisch sitzen mit Michael Prinz, Geschäftsführer der Hamburger Energiewerke, und Thomas Kanitz, Chef des E-Werks Sachsenwald in Reinbek, zwei Vertreter klassischer Energieversorger. Prof. Werner Beba, Leiter des Competence Center Erneuerbare Energien und Energieeffizienz (CC4E) an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), und Jens Heidorn, Geschäftsführer des Bergedorfer Windanlagenbetreibers NET Windenergie GmbH, verkörpern „die Erneuerbaren“.
Worin sich die Experten schnell einig sind: Auch wenn der Gaspreis an den Börsen schon wieder spürbar sinkt, werden sich Verbraucher in Deutschland auch langfristig auf Energiekosten deutlich über dem Niveau vergangener Jahre einstellen müssen. Sie dämpfen damit die Hoffnung vieler, der Preis für Gas und Strom – maßgeblicher Treiber der Inflation – werde sich absehbar wieder normalisieren. „Die Zeiten der ganz günstigen Preise, wie wir sie von früher kennen, sind definitiv vorbei“, sagt etwa Michael Prinz. „Die Frage lautet jetzt: Was ist das neue Normal?“
Und das sei richtig so, meint Jens Kerstan, der auch Aufsichtsratsvorsitzender der Energiewerke ist: „Das alte Normal war im Nachhinein eine falsche Spekulation oder eine eher gefährliche Wette der Politik in Deutschland“, sagt er mit Blick auf einen „unmoralisch niedrigen Preis“, der auf russischer Seite in Einflussnahme und Erpressungspotenzial gemündet habe. „Und darum ist es auch gut, dass wir zu diesem Preis nicht mehr zurückkehren, sondern zu einem Preis, der die Realität besser abbildet und eben auch Umweltlasten mit einbezieht“, so Kerstan.
Viel gespart – und trotzdem ist es noch warm genug
Jens Heidorn pflichtet ihm bei: „Wir dürfen aus meiner Sicht gar nicht wieder zu den ganz niedrigen Preisen hinkommen“, sagt er. „Weil sie dazu geführt haben, dass wir ganz locker mit Energie umgegangen sind. Immerhin haben die hohen Preise dazu geführt, dass sich jeder Einzelne Gedanken macht, wie er seine Energie einsetzt. Wir sparen Strom, wir sparen vor allem Wärme. Wir haben ein Einsparpotenzial von 20 Prozent, und trotzdem ist uns, glaube ich, noch warm genug.“
Nie wieder ganz günstige Preise also. Zum einen, weil kurzfristig verfügbare Alternativen zu russischem Gas schlicht teurer sind. Verflüssigtes Erdgas etwa, kurz LNG, das per Schiff geliefert wird, hat laut E-Werk-Chef Kanitz in der Vergangenheit 1,8- bis zweimal so viel gekostet wie Gas aus der Pipeline. Es ist ein Wert, der ihm grob als Anhaltspunkt dient für eine Einschätzung der Preisentwicklung zu einem Zeitpunkt, wenn sich die politische Weltlage stabilisiert haben wird. Zudem bevorraten sich solide Energieversorger lange im Voraus. Insofern haben sie im vergangenen Jahr zu sehr hohen Preisen eingekauft, die sie zeitverzögert an die Endverbraucher weitergeben müssen.
Gesellschaft hat riesige Investitionen vor sich
Der aus Sicht der Experten entscheidende Punkt aber ist: Die Energiewende, die politisch gewollt ist, kostet Geld. Viel Geld. „Wir haben als Gesellschaft riesige Investitionen vor uns“, sagt Energiewerke-Geschäftsführer Michael Prinz. „Denn was wir als Gesellschaft die letzten 20 bis 30 Jahre verpasst haben, müssen wir jetzt nachholen.“ Eine Fokussierung auf den Preis hält er insofern für falsch. „Wenn wir suggerieren, dass er wieder auf früheres Niveau sinkt, machen wir uns mit Sicherheit etwas vor. Das würde auch bedeuten, dass wir so weitermachen wie bisher und auf fossile Energien setzen. Und das ist genau der Punkt, den wir alle hier am Tisch nicht wollen. Sondern wir wollen den Ausbau der Erneuerbaren forcieren. Erneuerbare sorgen langfristig für stabile Preise und eine sichere Versorgung.“ Prof. Beba, der sich in diesem Punkt auf andere Branchenkenner beruft, beziffert die Kosten für den Transformationsprozess auf etwa 80 Milliarden Euro. Jährlich.
Es sind Investitionen in weitere Windkraft und Solaranlagen, in Wärmepumpen, in Speichertechnologien für Strom. Und vor allem auch in den sogenannten grünen Wasserstoff, an dem die Experten des CC4E forschen. Bei diesem Verfahren wird Wasserstoff mittels Elektrolyse aus Wasser gewonnen. Den Strom dafür liefern Windkraftanlagen – deshalb grüner Wasserwasserstoff.
Abschaltung von Moorburg „eine entscheidende Weichenstellung“
Hamburg ist nach Einschätzung seines Umweltsenators auf einem guten Weg. Die Stadt werde den Flächennutzungsplan ändern, um höhere Windkraftanlagen zuzulassen. „Die nächsten Schritte werden nicht im Außenbereich erfolgen, sondern eher im Hafen“, sagt Kerstan. Als eine „entscheidende Weichenstellung“ bezeichnet er, dass das noch relativ neue Kohlekraftwerk Moorburg stillgelegt und nicht ans Fernwärmenetz angeschlossen worden ist – auch wenn es in der Krise dazu kritische Stimmen gab.
„Wir in Hamburg investieren in erneuerbare Energien, bauen die größte Wärmepumpe Europas in einem Klärwerk, planen die größte Flusswärmepumpe, die es in Europa geben wird, und unsere öffentlichen Unternehmen testen Aquiferwärmespeicher, mit denen man Wärme aus dem Sommer in den Winter transferiert. All das hätte nicht stattgefunden, wenn Moorburg mit Fernwärme ans Netz gegangen wäre. Denn dann wäre das Ding bis 2040 weitergelaufen, und es hätte einfach keinen Bedarf und keinen Markt für alles andere gegeben.“ Es sei wichtig, in einer akuten Notsituation keine Maßnahmen zu ergreifen, die den Weg danach zementierten, die den Weg in die Zukunft versperrten.
- Nach Testphase: Windpark Curslack blinkt nachts nicht mehr
- „Wir sind in Aufbruchstimmung in Sachen Wasserstoff“
- 32 Projekte, die Bergedorf dieses Jahr prägen
Gut sei auch, dass die Landesregierung bei privaten Haushalten und Vermietern jetzt nicht mehr so wahnsinnig dafür werben müsse, dass energetische Sanierung oder der Einbau einer Wärmepumpe etwas Sinnvolles sei. „Das machen alle jetzt von allein“, so Kerstan.
Energiewende eine „riesige Chance für deutsche Unternehmen“
Deutschland müsse die neuen Technologien nur selbst vermarkten, mahnt der Senator, „wir dürfen das nicht die anderen machen lassen.“ Werner Beba pflichtet ihm bei, spricht von einer riesigen Chance für deutsche Unternehmen: „Der globale Wettbewerb um Klimaschutztechnologien hat gerade erst begonnen. Wir müssen richtig Gas geben. Abwärmeauskoppelung, Großwärmepumpen, grüner Wasserstoff – wenn wir diese Technologien zum Einsatz bringen und zeigen, wie sie funktionieren, dann wird es für deutsche Unternehmen einen großen internationalen Markt geben, der uns wieder einen Schub verleiht.“ Er spricht von „Technologie-Vorreiterschaft“ Deutschlands.
Gleichzeitig fürchtet Beba, dass ausgerechnet die derzeit hohen Energiepreise die Energiewende ausbremsen könnten. „Wenn wir das ökonomische Fundament, die Wirtschaftskraft dieses Landes nicht aufrechterhalten, dann fehlt uns die Kraft und dann fehlen uns die Mittel für diesen gigantischen Umbau.“ Denn das Geld solle nicht aus dem Staatssäckel kommen, sondern aus den Unternehmen, von Investoren. Und die könnten abwandern in Länder mit deutlich niedrigeren Energiepreisen, beispielsweise in die USA oder nach Kanada.
Beba nennt zwei Beispiele: „Früher, vor der Krise, haben Windparks für drei bis vier Cent pro Kilowattstunde produziert. Heute für acht bis zehn Cent. Warum? Inflation, Herstellungs- und Beschaffungskosten für Windkraftanlagen sind um die 30 Prozent gestiegen. Und die Banken verlangen nicht mehr fünf oder zehn Prozent Eigenkapital, sondern 25 Prozent. Das führt dazu, dass neue Windparks, in die jetzt investiert werden soll, es sehr sehr schwer haben, wirtschaftlich zu sein.“ Und auch beim Thema grüner Wasserstoff sorgt er sich. „Vor dem Krieg hat uns die Erzeugung eines Kilogramms Wasserstoff fünf Euro gekostet. Heute sind es zehn Euro aufgrund gestiegener Kosten für Strom, der für die Elektrolyse notwendig ist. Für den Umbau ist der massive Ausbau der erneuerbaren Energien und die krisenbedingte Senkung der Kosten entscheidend.“
Grüner Strom – noch zu oft ungenutzt
Ein weitere Herausforderung besteht darin, möglichst den zur Verfügung stehenden grünen Strom auch wirklich zu nutzen. In Schleswig-Holstein liegt der Versorgungsgrad bei 180 Prozent, das nördlichste Bundesland und Hamburg zusammen bringen es auf 120 Prozent. Es wird also unterm Strich mehr produziert, als verbraucht wird. Insofern ist es heute Alltag, dass Windkraftanlagen abgeriegelt werden, wenn Überkapazitäten drohen. Andersherum kommt es vor, dass kein Wind weht, wenn Strom gebraucht wird.
„Wind und Sonne folgen nun mal leider nicht dem Verbrauch, die Erzeugung muss aber sekundengleich dem Verbrauch folgen“, erklärt E-Werk-Geschäftsführer Kanitz. „Zu sagen, es stört mich nicht, dass im Januar morgens gerade Flaute ist, dann hole ich den Strom eben aus Frankreich oder aus Polen – und dann schaue ich auch nicht so genau hin, weil es für unseren CO-Fußabdruck ja nicht mitgerechnet wird – das ist keine Lösung.“ Gebraucht würden Speichertechniken, „damit ich die Energie aus Zeiten, in denen ich zu viel im Netz habe, abrufen kann in Zeiten, in denen ich zu wenig habe.“
Wie das funktionieren kann, machen die Hamburger Energiewerke gerade auf dem Gelände des Kohlekraftwerks in Wedel (Kreis Pinneberg) direkt an der Elbe vor. Dort entsteht eine sogenannte Power-to-heat-Anlage, die wie ein riesengroßer Wasserkocher funktioniert, betrieben mit anderenfalls überschüssigem Windstrom. Sie wird Wind in Wärme umwandeln. „Diese Verknüpfung ist es, die wir brauchen“, sagt Geschäftsführer Michael Prinz. „Das hilft uns, parallel die Wärme- und die Stromwende zu meistern.“ Fachleute sprechen von Sektorenkoppelung.
„Punkt 11 – Stunde der Entscheider“: Das ist die Serie
Zu „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ kommen in loser Folge – aber immer um elf am Vormittag – Experten jeweils einer Branche in unsere Redaktionsräume in der Chrysanderstraße 1 in Hamburg-Bergedorf, um sich über wichtige Themen der Gegenwart auszutauschen. Für die nächste Folge dieser Serie begrüßen wir Immobilienmakler.
Bisher in der Serie „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ erschienen: