Bergedorf. In „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ ordnen Branchenexperten aktuelle Themen ein. Heute: die Bedeutung des Fremdenverkehrs.
Wenn örtliche Touristiker über Bergedorfs Reize sprechen, dann kann das etwas länger dauern. Einziges Schloss Hamburgs, attraktive Gastronomie am Serrahn, Observatorium mit Chance auf den Titel Weltkulturerbe, Elbe und Sachsenwald nebenan – an Attraktionen, an Alleinstellungsmerkmalen mangelt es „der Stadt in der Stadt“ aus Sicht der Fachleute sicher nicht. Andere Orte würden damit wuchern, Bergedorf aber spielt seine Reize nicht aus, verschenkt Potenzial. So sehen es die Experten. „Es läuft mit dem Tourismus nicht so, wie es müsste“, sagt etwa Oliver Kahle.
Der ehemalige Geschäftsführer des Zollenspieker Fährhauses bemüht sich seit Mitte 2021 als Vorstandsmitglied des Vereins Wirtschaft und Stadtmarketing für die Region Bergdorf (WSB), der Fremdenverkehrsbranche vor Ort mehr Gewicht zu verleihen – ausschließlich ehrenamtlich. Und genau darin sieht Kahle Bergedorfs strukturelles Problem. „Andere sind da weiter“, sagt er, „andere haben ein professionelles Tourismusmanagement.“ Kahle meint: Das bräuchte Bergedorf auch.
Tourismus Bergedorf: Es gibt keinen, der hauptberuflich die Fäden zusammenführt
Nicht nur er sieht das so. Bei der zweiten Auflage der neuen Gesprächsreihe „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ in den Redaktionsräumen der Bergedorfer Zeitung/Lauenburgischen Landeszeitung, dem 60-minütigen Gedankenaustausch morgens um elf, sitzt auch seine WSB-Vorstandskollegin Marlis Clausen mit am Tisch, die zudem Vorsitzende der Gemeinschaft Vier- und Marschlande (GVM) ist und treibende Kraft hinter dem Erntedankfest im Landgebiet. „Es ist ein dickes Brett“, sagt sie. Kapitän Heiko Buhr, Chef der Bergedorfer Schifffahrtslinie, beklagt, dass es niemanden gebe, der hauptberuflich alle Fäden zusammenführt und Bergedorf nach außen bewirbt.
Eine Person wie Bettina Knoop zum Beispiel, die ihre Kollegin Paulina Holbreich mit zu „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ gebracht hat. Knoop leitet die Touristeninformation in Geesthacht, und sie ist den Bergedorfern ein gutes Beispiel, wie es funktionieren könnte, ja müsste. „Wir könnten doppelt so viele Ferienwohnungen in Geesthacht haben, wir könnten doppelt so viele Hotels haben. Wir sind in der Woche immer ausgebucht“, sagt Knoop. Und Holbreich, die in Bergedorf lebt, sagt mit Blick auf ihren Wohnort: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Tourismusmanagement ohne eine hauptamtliche Stelle laufen sollte.“
Tourismusmanager wäre Mehrwert für alle Branchen
Heiko Buhr ist überzeugt: „Ein Tourismusmanager wäre nicht nur für die Touristiker ein Mehrwert, sondern für alle anderen Wirtschaftszweige und Bergedorf an sich.“ Seine Idealvorstellung: „Die Leute kommen hier her. Sie kommen nicht nur, um hier draußen Fahrrad zu fahren, sondern sie wollen auch essen gehen, sie kaufen vielleicht noch eine Kleinigkeit. Wenn ich in Urlaubslaune bin, gebe ich doch eher Geld aus, als wenn ich für einen Arzttermin in Bergedorf bin.“
Für ihn ist die Nähe zur Hamburger Innenstadt einer der ganz großen Pluspunkte Bergedorfs. Und zwar nicht deshalb, weil Alster und Hafen auf kurzen Wegen zu erreichen sind, sondern – umgekehrt – weil Besucher sehr schnell rauskommen aus der großen Stadt nach Bergedorf – mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof in 21 Minuten. „Danach würde Geesthacht sich die Finger lecken, so einfach an die Hamburger ranzukommen. Das Problem ist: Bei den Hamburgern im Kopf ist Bergedorf so weit weg wie Schwerin“, sagt Buhr.
Apropos Bergedorf und Geesthacht: Nach 60 Minuten – am Ende von „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ – werden die Bergedorfer und die Geesthachter Touristiker, die einander zuvor nicht persönlich gekannt haben, beschließen, sich informell zu vernetzen.
Thema hat auch die Bezirks-Ampelkoalition beschäftigt
Aber zurück zu Bergedorf: Dass es nicht perfekt läuft mit dem Fremdenverkehr, hat auch die Ampelkoalition im Bezirk konstatiert, aus deren Antrag an die Bezirksversammlung am 19. Mai Oliver Kahle zitiert: „Zwei wesentliche Gründe dafür, dass es nicht funktioniert in Bergedorf mit dem Tourismus, sind: Es gibt kein professionell aufgestelltes Tourismusmanagement, und es fehlen die finanziellen Ressourcen.“ Verbunden damit sei der Auftrag an die Bezirksamtsleitung gewesen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Passiert ist bis heute nichts. Warum nicht? Eine Analyse.
Erstens: Es geht doch auch so. Das sei ein Argument, das immer angeführt werde, sagt Marlis Clausen, die oft auf Tourismusmessen gestanden hat, zuvor mit Helfern den Stand auf- und hinterher wieder abbauen musste. Alles ehrenamtlich. „Und dann haben wieder alle gesehen: Die machen das schon. Läuft doch“, sagt Clausen. Die Ehrenamtler könnten das aber nicht mehr leisten. Und: „Wie viel mehr hätten wir erreichen können mit einem professionellen Tourismusmanagement.“
„Stadt in der Stadt“ zieht im Hamburg-Kontext nicht
Zweitens: Das Bild von der stolzen, authentischen Stadt in der Stadt, als die Bergedorf sich gern selbst sieht, zieht im Hamburg-Kontext nicht. Die Hansestadt hat ihre Werbeaktivitäten in der Hamburg Tourismus GmbH zentralisiert, deren Akteure das gesamte Stadtgebiet im Blick haben, Bergedorf eingeschlossen. Dort wird das gesamte Budget gebündelt, also auch Geld, das in Bergedorf fehle, so Oliver Kahle. „Natürlich ist die originäre Aufgabe der Hamburg Tourismus, ein Incoming-Geschäft zu betreiben, also Leute nach Hamburg reinzubringen“, erklärt er. „Hamburg Tourismus ist damit befasst, aus dem Umland, aus der Metropolregion, aus den umliegenden Bundesländern, aus ganz Deutschland, ja aus ganz Europa Gäste in die Stadt zu holen. Aufgabe ist hingegen nicht, Gäste aus Hamburg-Mitte zu uns zu schicken. Aber wir sind beauftragt, diese Menschen herzuholen.“
Damit ist die Interessenlage in Bergedorf eine ganz andere. Kahle: „Für uns ist es doch völlig egal, ob der Mensch, der jetzt gerade mit seiner Einkaufstüte durch die Bergedorfer City läuft und zu Besuch ist, aus Schnelsen kommt, aus Lüneburg, aus Schwerin oder aus Madrid. Auch der Hamburger ist für uns ein Gast und ein Tourist.“
„Bürgermeister Tschentscher hat es begriffen“
Marlis Clausen plädiert unterdessen dafür, auch im Hamburger Senat ein Bewusstsein für Bergedorf zu schaffen: „Bürgermeister Tschentscher hat es begriffen, dass das Erntedankfest eine der größten Kulturveranstaltungen Hamburgs ist mit Strahlkraft nach ganz Deutschland“, sagt sie und empfiehlt: „Wir müssen auch herausarbeiten, welchen Nutzen denn Hamburg davon haben könnte.“
Dritter Grund, aus dem die Bemühungen um professionelle lokale Tourmusexpertise gerade jetzt ins Leere laufen, dürfte der unmittelbar bevorstehende Start eines Citymanagements für Bergedorf sein. Daran – so die Theorie – soll der Bereich Fremdenverkehr angedockt werden. Oliver Kahle und Mitstreiter befürchten, dass der Schub, den Tourismus allen Branchen bringen sollte, nicht erkannt werden wird, „dass wir da im Eintopf untergehen“. Kahle: „In der Aufgabenbeschreibung fürs Stadtmanagement steht ja sinngemäß drin: Wir machen mal Wirtschaftsförderung, das geht in Richtung Einzelhandel, und wenn dann noch was übrig ist, dann machen wir ein bisschen Tourismus. Man muss aber ins Bewusstsein der Menschen bringen: Wenn hier 200.000 Leute herkommen, von denen jeder 100 Euro ausgibt, dann ist das schon ein Wirtschaftsfaktor.“
Corona-Pandemie hat riesigen Schub gebracht
Was den Fremdenverkehr in der Region nach Einschätzung der Experten tatsächlich nachhaltig beflügelt haben könnte, war ausgerechnet die Corona-Pandemie. Oliver Kahle spricht von einem „Riesenschub“. „Das war ja eine Marketingaktion, die es noch niemals in der Geschichte gegeben hat, dass man den Bürgern verbietet, ins Ausland zu reisen. Mehr kannst du doch gar nicht machen!“ Nun sei dieser Schub gelaufen, die Menschen reisten wieder nach Spanien oder Italien, „aber sie haben im Kopf, was sie bei uns erlebt haben in diesen zwei Jahren. Das müssen wir pflegen.“ Touristeninformations-Chefin Bettina Knoop berichtet, dass Geesthacht immer noch auch von Wohnmobilfahrern sehr gut besucht werde. „Wir könnten dreimal so viele Stellplätze haben. Die Nachfrage ist riesig. Wir vermarkten das nicht mal groß. Die Leute hatten 2020 Geld, haben sich alle Wohnmobile gekauft. Und der Trend ist immer noch da.“
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Die negative Seite der Corona-Zeit: Viele Menschen haben sich beruflich neu orientiert, insbesondere in der von langen Schließungen betroffenen Gastronomie. „Das Problem haben wir überall“, sagt Knoop. „Die Fachkräfte sind weg, und sie kommen auch nicht wieder.“ Oliver Kahle berichtet von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Regionen Deutschlands, die inzwischen in Indonesien und Thailand um Mitarbeiter werben.
Und nun ist die nächste Krise da, und die lokalen Touristiker wollen sie wieder als Chance begreifen. „Wir merken das schon, dass die Leute jetzt nicht mehr zweimal im Jahr wegfliegen, sondern sagen, wir sparen uns einen Urlaub und machen dann lieber noch Kurztrips“, sagt Bettina Knoop. Und Kapitän Heiko Buhr ergänzt: „Ich glaube, dass es viel schwieriger ist, 2000 Euro für einen Urlaub auszugeben als 50 oder 100 Euro für eine Freizeitaktivität. Man möchte sich auch mal belohnen, mal einen Tag raus, mal essen gehen. Für uns als Umland ist das die Chance, uns noch mal wieder neu aufzustellen.“
„Punkt 11 – Stunde der Entscheider“: Das ist die Serie
Zu „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ kommen in loser Folge – aber immer um elf am Vormittag – Experten jeweils einer Branche in unsere Redaktionsräume in der Chrysanderstraße 1 in Hamburg-Bergedorf, um sich über wichtige Themen der Gegenwart auszutauschen. Für die nächsten beiden Folgen dieser neuen Serie begrüßen wir Experten rund ums Thema Energie und Immobilienmakler.
Bisher in der Serie „Punkt 11 – Stunde der Entscheider“ erschienen:
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