Hamburg. Der Musiker feierte am Sonntag sein Comeback: Dabei gab es auch Blumfeldklassiker zu hören – und herrlich inhaltsleere Muckerparolen.
Welchen Satz durfte man kürzlich vom großen Jochen Distelmeyer lesen? Der schon vor Ewigkeiten nach Berlin verzogene Troubadour des deutschsprachigen Pop gab folgendes zu Protokoll: „Hamburg ist immer in meinem Herzen.“ Am Sonntag kehrte der Musiker zurück in die Hansestadt und begeisterte seine Fans bei seinem Konzert auf Kampnagel.
Distelmeyer: Comeback-Konzert in Hamburg
Nun, er hat ja hier lange gelebt, der Mann, der von Hause aus Bielefelder ist. Und man darf wohl sagen, dass die Hamburg-Jahre die produktivsten seiner Karriere waren. Als Berliner hat er fast anderthalb Jahrzehnte gebraucht, um endlich ein richtiges zweites Solowerk vorzulegen. „Gefühlte Wahrheiten“ erschien vor ein paar Wochen, die neuen Songs stellte Distelmeyer nun auf dem Sommerfestival vor.
Unlängst war er ja schon für einen Auftritt bei „Inas Nacht“ nach Hamburg zurückgekehrt. Jetzt Kampnagel, jetzt, im gesegneten Rock-Alter von 55 Jahren ein Comeback-Konzert vor den Leuten von früher, die mit ihm und Blumfeld in den Neunzigern und den Nullern jünger waren. Und die mit ihm in Würde gealtert, aber meist weniger fesch gekleidet sind.
Konzert Distelmeyer: Fans sind sei "Apfelmann" einiges gewohnt
Der wie stets und immer noch jungenhafte Distelmeyer trat in Hamburg im auffälligen Hemd auf, aber blenden lassen sich von sowas Anhänger des Diskursrocks natürlich eh nicht. Das Album „Gefühlte Wahrheiten“ ist überwiegend freundlich, man hatte ja auch etwas vermisst in den Jahren ohne Jochen, aber stellenweise auch kritisch aufgenommen worden.
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Textlich zu verbraucht und kitschig, und dann erst die englischsprachigen Countrysongs… Wobei man auf Kampnagel schon davon ausgehen konnte, in einen Innercircle von Blumfeld-Exegeten geraten zu sein. Und die erlebten damals, in einem anderen Leben, auch die Hinwendung Distelmeyers zum Pastoral-Lukullisch-Fröhlichen („Der Apfelmann“), da hatte dann manch einer dran zu kauen. Vielleicht bis heute.
Kampnagel: Distelmeyers Stimme begeistert die Fans
Auf Kampnagel gab es Gelegenheit, die neuen und die alten Stücke live zu erleben. Und einen Sänger in Bestform: Über Distelmeyers Stimme kann man keine zwei Meinungen haben. Sie ist so gut, dass verglichen damit andere, auch und gerade die Max Giesingers dieser unschönen, schaurigen deutschen Musikwelt, einpacken können.
Auf Kampnagel nahm die Stimme Distelmeyers den nicht allzu schwer zu bespielenden Raum gleich ein. Dieser kleinen Halle der Kulturfabrik kann man Intimität sicher zugestehen, und die brauchte es für Distelmeyers Songreigen über die Liebe.
Konzert Kampnagel: Distelymeyer spielt Partnervermittler
Mit vierköpfiger Begleitband waren die besten Stücke von „Gefühlte Wahrheiten“ jedoch teilweise ihrer allerfeinsten Elemente beraubt: Bei „Zurück zu mir“ etwa, dem Kritikstück digitalgesteuerter Parallelwelten, vermisste man schmerzlich den Frauenchor. Dafür gab‘s den Popsong „Lass uns Liebe sein“ vom älteren Solowerk gleich als zweites Stück des Abends.
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Auf seinem neuen Album wiederum dekliniert Distelmeyer das Thema „Begehren“ längst nicht nur in einem Lied durch, da wirkte es nicht ganz komisch, dass er für die Leute vor sich früh verbal den Partnervermittler („Heute ist die Gelegenheit, jemanden kennenzulernen“ ) gab. Akademiker-Parship auf dem Sommerfestival: Mindestens alle zwei Songs verliebt sich ein Fan neu in Distelmeyers Idee vom Lovesong, oder so ähnlich.
Distelmeyer: Träge Soundtracks für die Erschöpften
Die akustisch geprägten Lieder („Nur der Mond“, „Ich sing für dich“) waren hinreichend träge Soundtracks für die Sonntagabenderschöpfung von Menschen mittleren Alters. Was übrigens auch schon für den Saxophon-Lounge-Jazz vom Band vorm Konzert galt. Music for the established generation. Die musste stehen, was bei manchen für Rückenschmerzen gesorgt haben könnte.
Was die englischen Lieder angeht: Sie wurden nicht ganz ausgespart, obwohl der Musiker auf den Countryschmarrn von „Gefühlte Wahrheiten“ verzichtete. Distelmeyer hat vor ein paar Jahren ein komplettes Album mit Coverversionen gemacht. Und Britney Spears’ „Toxic“ ist tatsächlich live eine druckvolle Umkehrung des Bubblegum-Pops, wie auf Kampnagel bewiesen wurde. Der erste Blumfeld-Song des Abends war dann das gut gealterte „Tics“. Distelmeyer („Da hat sich einer Mühe mit den Texten gegeben“) hatte sichtlich Spaß im Frühwerk.
Konzert: Distelmeyer verabschiedet sich mit Muckerparole
Wie gut ist bitte „Eintragung ins Nichts“? Unsterblicher Song, lyrisch, musikalisch; ihn nach langer Zeit wieder live zu hören, lohnte allein das Kommen. Bei „Wir sind frei“ schenkte das Publikum dem schwitzend sich verausgabenden Bühnenarbeiter Distelmeyer das Mitsingen des Refrains, und die Utopie der Freiheit hatten sich alle, Konzertbesucher und Künstler, für den Augenblick redlich verdient.
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Mit einer als herrlich allesnichtssagende Pep-Talk-Verabschiedung („Lasst euch nicht verarschen. Ihr wisst, wer ihr seid“) verkleideten Muckerparole beendete Distelmeyer anschließend erst einmal das Konzert, um dann noch mal für den Zugabenteil rauszukommen.
Kampnagel: Distelmeyer beendet sein Konzert mit einer Zugabe
Das majestätische, freilich von einem albernen Musikvideo begleiteten „Komm (So nah, wie du kannst)“ entpuppte sich dabei als konzertant wirkungsvolles Lied, beseelt auch ohne den chorischen Frauengesang. „Murmel“ als Zufriedenheitsmarker des im Leben (längst) Angekommenen war dann der Mottosong eines schönen Comeback-Abends: „Ich leb' dafür und leb' davon/Am Ende ist es nur ein Song/Und ich flieg' davon/Zu Dir“ - die Kunst, die Liebe, Jochen Distelmeyers Welt.