Hamburg. Chineke! Orchestra und Sheku Kanneh-Mason zeigten, dass Klassik nicht klischeebeladen daherkommen muss – und es auch nicht sollte.
Der Beginn des Konzerts war vielsagend. Manche Ensembles begeben sich höchstens mitteleifrig auf ihren Arbeitsplatz im Rampenlicht, weil es der tarifgebundene Dienstplan nun mal von ihnen verlangt und sie sich nur noch dunkel erinnern können, dass sie ihren Job einmal tatsächlich aufregend und horizonterweiternd fanden. Große Traditionsorchester tragen ihren Markenartikel-Namen stolz vor sich her und möchten schon deswegen ausgiebig bewundert werden. Am Ende solcher Audienzen ist dann untertänigster Applaus zugelassen.
Das Chineke! Orchestra aber kam am Freitag auf die Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie, um von Anfang an als das gewürdigt und gefeiert zu werden, was es seit 2015 ist: eine junge, selbstbewusste, herausfordernd eindeutige Gruppe von vorwiegend jungen Musikern und Musikerinnen, die nicht der klassischen, weißen Klischee-Vorstellung eines klassischen Orchesters entsprechen. Ethnisch divers, geeint von dem Anspruch, nicht nur deswegen schon als außergewöhnlich betrachtet zu werden, standen sie dort im Rampenlicht und genossen es, auf Augenhöhe in ihrer Vielfalt gesehen zu werden.
Elbphilharmonie: Ein Ensemble wider die Ausgrenzung
Vor der Orchester-Zugabe wird Dirigent Kevin John Edusei, in Bielefeld geboren, später, am Ende dieser Demonstration energisch ausrufen, dass People of Color schon immer zum Diskurs der klassischen Musikkultur gehört hätten – „und wir wollen, dass das so bleibt“. Noch mehr Beifall als ohnehin, von einem Publikum, das an diesem Abend weit von der Stammkundschaft-Zusammensetzung entfernt war.
„Die Branche der klassischen Musik findet noch immer Wege und Systeme, um schwarze Musikerinnen und Musiker auszubremsen“, hatte die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz erst kürzlich im „Erstklassisch“-Podcast gesagt. Chineke! will, und das ganz eindeutig, Gas geben, durchstarten und überholte Stereotypen überholen.
Nur konsequent, dass das britische Orchester ein role model als Gastsolisten mitgebracht hatte, den britischen Cellisten Sheku Kanneh-Mason. Der war mit Schostakowitschs 2. Cellokonzert für den konventionellsten Teil des Programms zuständig und spielte diese Repertoire-Seltenheit, die es im Schatten des Schwesterwerks schwer hat, auch mit entsprechend großem Respekt und aufrichtiger Hingabe an jede Phrase, und sei sie noch so spröde.
Sheku Kanneh-Mason tat sich etwas schwer mit Schostakowitsch
Das war schon deswegen anstrengend, weil es vor allem ein großer, verschatteter Trauerkloß ist, der sich nur unter Mühen von der Stelle bewegen lässt. Während das Orchester, von Edusei schlackenlos und freundlich nachfassend motiviert, den Charakter erfasste und aufregend inszenierte, klang Kanneh-Masons Part nicht ganz so mühelos. Und auch nicht gänzlich von sich selbst überzeugt.
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Wenn die Erinnerung nicht trügt, war sein erster Anlauf in dieses Stück – im März, damals mit dem CBSO und Sir Simon Rattle – eindringlicher gewesen. Doch für einen erst 23 Jahre jungen Virtuosen sollten Tagesformschwankungen zu verschmerzen sein.
Gleich zum Konzertbeginn eine Etüde in Showmanship
Als Zugabe und Dank für den tosenden Beifall spielte und pfiff Kanneh-Mason noch ganz reizend etwas Namenloses, Selbstkomponiertes, Kleines. Dabei hatte das Konzert mit einer geradezu spektakulär effektvollen Etüde in Showmanship begonnen. Brian Nabors‘ „Pulse“, gerade eben zwei Jahre jung, bot dem Tutti die Chance, cool mit den Motiv-Ideen zu jonglieren, die so kunterbunt durcheinanderwirbelten, als wollten sie sich dringend in Hollywood für einen Soundtrack-Auftritt bewerben. Auch der Name von William Levi Dawsons „African-American Folk Symphony” hielt nach der Pause, was er versprach.
Dawson hatte 1934 einen Teil seiner Heimat und seiner Traditionen in die heiligen Hallen der New Yorker Carnegie Hall gebracht. Elegische Englisch-Horn-Soli, viele Synkopen, folkloristische Zutaten – spätestens seit Dawsons Meisterwerk sind diese Merkmale nicht mehr ausschließlich Wegweiser Richtung Dvoraks „Neue Welt“. Dawson geht unbeeindruckt gänzlich eigene Wege bei seiner Emanzipation von Klischees und Bevormundung. Edusei und Chineke! verleihen dieser Tonsprache eine stolze Eleganz, die bis zum letzten Takt fasziniert und packt, weil sie sich nicht anbiederte oder kleinmachte.
Elbphilharmonie: People of Color auf der Bühne? Keine Eintagsfliege!
Die Zugabe – der funkensprühende “Dance“ aus Coleridge-Taylors „Othello“-Suite – hätte es nicht gebraucht, um die Schockverliebheit des Publikums in dieses Orchester und diese Musik zu steigern. Eine Eintagsfliege, dieser erstaunliche, lehrreiche Abend?
Zumindest im Hinblick auf die Elbphilharmonie kann man das gerade nicht bestätigen: Schon am Dienstag präsentiert das Philadelphia Orchestra dort fast nur afroamerikanische Komponistinnen, darunter die 1932 uraufgeführte 1. Sinfonie von Florence B. Price, deren Wiederentdeckung und Würdigung ähnlich überfällig war. Es geht also einiges. Man muss nur wollen.
Alben: Am 9.9. erscheint Sheku Kanneh-Masons CD „Song“ (Decca, CD ca. 18 Euro), am 30.9. folgt das Chineke! Orchestra mit „Coleridge-Taylor“ (Decca).