Hamburg. Nach zehn Jahren Hamburg-Abstinenz kehrte “die beste Band der Welt“ auf die Trabrennbahn zurück. Eine gute Show – mit Schwächen.
„Der Himmel ist blaugrau, und der Rest unseres Lebens liegt vor uns. Mit hoffentlich noch vielen, vielleicht Dutzenden Konzerten, die den ewigen Auflösungsgerüchten spotten“, schrieb das Hamburger Abendblatt nach dem „perfekten Abend“ mit Die Ärzte auf der Bahrenfelder Trabrennbahn. Das war vor exakt zehn Jahren. Und tatsächlich hatten sich Bela B, Farin Urlaub und Rod Gonzales anschließend zwar nicht aufgelöst, aber auseinander gelebt und gingen eine lange Zeit getrennte Wege. „Aber jetzt ist die alte Liebe wieder da, was man hoffentlich auch hört“, erzählte Farin 2020 im Interview zum Comeback-Album „Hell“.
Konzertkritik: Die Ärzte nach zehn Jahren wieder in Hamburg
Die alte Liebe zwischen Die Ärzte und ihren Fans ist jedenfalls geblieben. 20.000 kommen am Mittwoch zum Wiedersehen auf die Trabrennbahn in Bahrenfeld. Das Konzert wurde nach der endgültigen Absage der mehrfach verschobenen Hallentour im Dezember 2021 recht kurzfristig angesetzt, und wie bei vielen neu in den Vorverkauf gegebenen Shows gibt es auch bei Die Ärzte in Hamburg noch Karten an der Abendkasse. 2012 kamen jeweils 12.000 an zwei Abenden.
Das „Kultursommer“-Areal wurde seit der letzten vorpandemischen Open-Air-Saison 2019 aus dem so genannten „Luruper Bogen“ weiter auf das Renngelände verschoben und stark erweitert. Da muss man sich erst mal neu orientieren. Einige WC-Bereiche und Getränkestände sind dicht umlagert, an anderen Ecken bekommen die Patientinnen und Patienten von Die Ärzte schnell ihr Bier und werden es auch schnell wieder los nach der Verstoffwechselung.
Konzert in Hamburg: Die Ärzte verzichten auf ihren populärsten Song
Es ist zwar etwas teurer, der halbe Liter Bier kostet sportliche sechs Euro, dafür ist man unter sich. Und der Himmel ist dieses Mal tatsächlich blau, als Farin Urlaub ihn zum Auftakt mit „Himmelblau“ besingt. Wie immer bei Die Ärzte weiß man nie vorher, was das Trio abliefern wird. Bela sagte kürzlich zum Abendblatt, dass die Band knapp Hundert Songs für die „Buffalo Bill in Rom“-Tour einstudiert hat. Wie bereits 2012 werden auch dieses Jahr knapp 40 Lieder aus diesem Angebot präsentiert, die Setlist variiert stark von Abend zu Abend. Beliebte Klassiker, selten gespielte Raritäten, Abseitiges und Absurdes.
„Westerland“ allerdings, neben „Schrei nach Liebe“ sicher einer der populärsten Songs, wurde bislang auf der Tour nicht angefasst. Eigentlich bieten die aktuellen Zustände auf Sylt die ideale Steilvorlage für eine der langen, spontanen und gern auf eine Pointe verzichtenden Ansagen, aber vielleicht ist das für Die Ärzte zu erwartbar. Außerdem hat Bela ja mittlerweile seinen „Frieden mit Sylt gemacht“, wie er kürzlich erzählte.
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Aber auch ohne „Westerland“ geht es kreuz und quer durch die 40 Jahre (brutto) lange Geschichte der 1982 gegründeten Band. Einige Fans tragen noch das Kürzel „38 b“ auf ihren T-Shirts, was für die Niebuhrstraße 38 b in Berlin steht, wo Farin und Bela seinerzeit hausten. Bela lebt aber bekanntlich seit Ende der 90er-Jahre in Hamburg, und vergisst nicht, seine Leidenschaft für den FC St. Pauli zu verkünden. Für ihn ist das ein Heimspiel, und die Band-Gästeliste am Eingang hat den Umfang einer Tapetenrolle.
Ärzte-Konzert: Das Konzept der Planlosigkeit hat auch seine Tücken
„Noise“, „Wir sind die Besten“, „Meine Freunde“, „Blumen“ und „Lasse redn“ wirbeln den Staub auf dem Geläuf auf. Die Akustik ist etwas rumpelig und nicht zu laut, obwohl das bei Open-Air-Konzerten immer eine Sache des Standortes und Standpunkts ist. Nicht alle, die in Eidelstedt, Bahrenfeld oder Stellingen abends ihre Wohnungen lüften, werden sich über weit über die Stadt schallende Lieder wie „Ist das noch Punkrock?“ oder „Hurra“ freuen: „Du nervst noch mehr als Yoko Ono! Gehst mir tierisch auf den Sack! Du haust nicht ab aus meiner Wohnung! Du hast einen beschissenen Musikgeschmack!“.
Für die Behörden sind die „Kultursommer“-Konzerte von Mark Forster, Die Ärzte und am Sonnabend Scooter (auweia) so genannte „seltene Störereignisse“, die unter einer langen Auflagenliste und (angedrohten Sanktionen bis zum Konzertabbruch) über die vorgeschriebene Nachtruhe hinaus bis 23 Uhr stattfinden dürfen.
Die Ärzte in Hamburg: Dynamik geht im Mittelteil etwas verloren
Die Ärzte reizen ihr Zeitfenster bis zur letzten Minute mit 37 Liedern zweieinhalb Stunden lang aus. Ein langer Abend, der im Mittelteil bei Band und Publikum spürbar an Dynamik verliert. Die Songauswahl ist mit Störereignissen wie „Ich, am Strand“, „Schrei“, „Waldspaziergang mit Folgen“, „Elektrobier“ oder „Alle auf Brille“ eher mittelmäßig, die Ansagen teilweise nicht zitierfähige Herrenwitze.
Vor dem blau-gelb illuminierten Klassiker „Friedenspanzer“ murmelt Bela hastig ein paar Worte zur Ukraine ins Mikro. Das hat kurz etwas von einer öffentlichen Bandprobe. Das bewährte Konzept völliger Planlosigkeit und mit aus dem Stegreif geänderten Liedtexten (Campino statt Delfine „im Thunfischsalat, wie gemein“) hat auch seine Tücken. Aber wie hieß es schon 1988 auf dem legendären Konzert-Album „Nach uns die Sintflut“: „Das ist live.“
Die Devise für die Zielgerade: Weniger quatschen, mehr rocken
Auf der Zielgeraden nehmen Die Ärzte zum Glück wieder Fahrt auf und nehmen sich ein Beispiel an Rod, der das ganze stoisch vor seiner Wand aus Orange-Bassverstärkern beobachtet: Weniger quatschen, mehr rocken.
Es bleiben so gut wie keine Wünsche offen. „Unrockbar“, „Wie es geht“, „Schrei nach Liebe“, Mach die Augen zu“, „Junge“ und „Zu spät“ wecken den Chor der 20.000, bevor es wie schon vor 10 Jahren nach „Dauerwelle vs. Minipli“ zu Bussen und Fahrrädern geht. „Elektrische Gitarren und immer diese Texte, das will doch keiner hören“, heißt es in "Junge". Aber Die Ärzte wollen auch nach 40 Jahren immer noch viele hören. Für sie bleiben Bela, Farin und Rod „die beste Band der Welt“. Aus Berlin.