Hamburg. Das neue Album von Jochen Distelmeyer, dem Chef der legendären Hamburger Band Blumfeld, beschwört die Kraft der Zweisamkeit.

Ist ein neues Album von Jochen Distelmeyer per se ein Ereignis? Sicher, der Mann darf als einer der besten deutschsprachigen Songwriter gelten. Und er hat sich rar gemacht, ja beinah war er verstummt zuletzt. Zumindest was originalgeniale Lyrics in seiner Muttersprache angeht. „Heavy“ erschien 2009, danach gab’s noch das weitgehend verzichtbare „Songs From The Bottom, Vol. 1“. Nicht zu vergessen, na klar, die Revival-Tour „L’-État-Et-Moi“ zum gleichnamigen, legendären Blumfeld-Album von 1994.

Schon schlimm, wie lange das, einerseits, alles her ist. Und andererseits reifen Songwriter doch manchmal auch wie guter Wein. Bei Distelmeyer, 1967 in Bielefeld geboren, lange in Hamburg beheimatet, ehe er langweiligerweise nach Berlin die Biege machte, scheinen Gärungsprozesse nun zu einem Ende gekommen zu sein. Das neue Album „Gefühlte Wahrheiten“ ist da. Und es ist: beinah ein reines Liebesalbum.

Jochen Distelmeyers erotische Anbahnung

Das Ich und das Du, die Balz, das Amorfieber, erotisches Pas-de-deux, Trennung und Rückgeworfensein auf sich selbst, Worte des Bedauerns: Es ist ein klassischer Zyklus, der aus dem Dutzend Liedern tönt. Reicht das? Findet er eine Sprache für die Liebe? Immerhin eine Unterströmung: Distelmeyers Zeitdiagnostik. Liebe ist möglich, aber: „Die Spezies spielt verrückt“, singt er einmal.

Im folgenden stellt die Abendblatt-Redaktion „Gefühlte Wahrheiten“ Song für Song vor.

Komm (So nah wie du kannst)

Bei 3:18 setzt die Frauenstimme ein, betörend, sirenenhaft. Das männliche Erzähler-Ich ist Odysseus, und er ist hier vor allem auch von den Musen geküsst. Dann kommt das Schlagzeug, dann die E-Gitarre. Spannungsaufbau gelungen, ein Song wie eine ero­tische Anbahnung. „Komm (So nah wie du kannst“) ist eine Beschwörung der Zwischenmenschlichkeit, eine Betrachtung des Feuers, das in den Seelen widerscheint, die um Liebe barmen. Ein überaus delikater Popsong.

Zurück zu mir

Die zweite Single, mit Texter Distelmeyer in bestechender Form. Zurück will sein lyrisches Ich nicht zum Du, sondern zu sich selbst. Und dieser Schritt in die Ich-Einheit, nach der „Odyssee“ (ein Lieblingsbild Distelmeyers, wir denken an seinen eher misslungenen Roman „Otis“), ist auch einer weg von den digitalen Versuchungen: „Unter uns/Da ist kein Glück in den Maschinen/Auf dem Markt nur falsche Götter/Denen wir dienen/Das real life ist den Hatern ins Netz gegangen/Egal wohin man surft/Nur verirrte Seelen“.

Hey Dear

Wenn Distelmeyer „Hey Dear“ singt, klingt das ein wenig wie „Hallo, Reh“. Dieser ausgebremste Gitarrenpop-Schleichmichel hat ganz große Kulleraugen mit gut versteckten, aber schmachtenden Streichern, Piano und sanft massierendem Bass. „War dir so kalt, dass dir mein Feuer gefiel?“, fragt er das Gegenüber. Sein Herz brennt, mit seiner Liebe wird ein Spiel gespielt, das ist alles eindeutig unentschieden. Hier wird jemand von seinen ungezügelten Emotionen nicht nur eingeholt, sondern überholt. Armer Jochen!

Im Fieber

Jochi als Loverboy. In softer Kajagoogoo-Manier singt er seiner Angebeteten hinterher. Das Keyboard driftet mit. Die flirrende Stadt als Projektionsfläche für glühende Liebeszweifel. Inklusive Kapitalismuskritik. „Draußen brennt und lodert die Welt wegen Geld wie im Fieber / mach’ nicht mit und treff’ dich im Traum“, erklärt Distelmeyer. Innenschau statt Werksirene also. Okay. Zeilen wie „Was soll ich tun / auf dass du mir gehörst“ wirken allerdings wie an sämtlichen feministischen Diskursen vorbeigelebt. Schade.

Tanz mit mir

Geil. Wenn ein Song „Tanz mit mir“ heißt, dann muss der auch tanzbar sein. Und das ist diese zu fluffigsten 80er-Synthies schwofende Soft-Funk-Nummer. Dieses Lied trägt wie Atlas eine riesige Discokugel. Sätze wie „Als unsere Blicke sich fanden“ sind zwar etwas abgenutzt, aber auch so schwülheiß wie dieses einzigartige, doch viel zu selten erlebte Gefühl, auf der Engtanzfläche einem Menschen zu begegnen, der einem zeigt: Nicht wir drehen uns hier im Raum, sondern der Raum dreht sich um uns.

Nur der Mond

Musikalisch ein schöner Song, in dem Distelmeyers Stimme dunkel anklingt. Die Gitarre schlendert am Gesang entlang, bis sie sich in einem Schmachtsolo entlädt. Einsamkeit und Sehnsucht im Angesicht des Mondes sind ein klassisches roman­tisches Motiv. Textlich sind Passagen in ihrer Plattitüdenhaftigkeit aber schwer zu ertragen: „Fühlt sich an wie Fügung/dass wir uns begegnet sind“ oder „All der Liebe Zauber/die uns vereint in einem Kuss“. Kann man sechs Minuten lang so machen, aber es ist halt: Klischee.

Roads Of Regret

Jochen Distelmeyer singt hier mal englisch, schnallt sich seine akustische Gitarre um, und klingt wie ein trauriger Mann, der seine Karriere als Johnny-Cash-Imitator an einem Open-Mic-Abend im „White Elephant Saloon“ in Fort Worth, Texas mit einem letzten Hurra beendet. Zwei Trucker weinen und rühren mit den Zeigefingern ihre Lightbiere um. Die Bardame gießt Distelmeyer Kaffee nach und möchte ihn streicheln. Aber sein Herz ist schwarz wie das Gesöff in seiner Tasse. Sie wischt ihre Hand an der Schürze ab.

The Reason

Pop wie in den Achtzigern, der heute manchmal wie Indiepop klingt, dazu Distelmeyers seelenvoller Gesang, der auch die akustisch grundierten Folk­stücke veredelt: Diese Sounds dominieren das Album. Leider ist aber dieser lupenreine Coun­trysong drauf. Ab einem bestimmten Alter, heißt es ja, ist Country plötzlich eine Option. Das ist bedauerlich. Diese Schunkeliade („You Can Kill A Man Through Silence“, jaja) vom Lonesome Cowboy ist matter Pastiche eines verdächtigen Genres. Verzichtbar, Jochen, echt!

Gone Girl

In der weiten Welt der Popmusik lässt sich fragen: Wie viele Songs über Liebeskummer kann es geben? Antwort: nie genug. Hier hat Distelmeyer ganz heavy den Blues – im Stile zeitloser Country-Balladen. Sachte führt uns die Gitarre hin zu Erinnerungen und Verlust. Und Distelmeyers Stimme ertönt tausend Tränen tieftraurig, während er nach dem einen fehlenden Menschen sucht. Dieses harsche Gefälle, verirrt und verwirrt zu sein, während die andere längst neue Wege geht – Distelmeyer bringt es auf den Punkt.

Manchmal

„Und ich schütt’ dir mein Herz aus auf gewelltem Papier“: Ein Verlassener und doch bedingungslos Liebender. Blumfeld-Textexegeten schießt da sofort der Song „2 oder 3 Dinge, die ich von dir weiß“ in den Sinn – mit Versen wie „Ein Brief nach weit weg/so bin ich dir nah“. Distelmeyer als großer Minneschreiber. In der Nummer von 1994 heißt es allerdings auch: „Wir sind politisch und sexuell anders denkend“. Die Subversion ist nun dem Herzschmerz gewichen. Distelmeyer erzählt von Flucht nach und Trost in Berlin. Na immerhin.

Nicht einsam genug

Der Dylan-Moment auf dieser Platte, dass 11:33-Minuten-Stück mit Überlänge. „Was soll nur hier werden auf Erden/Dem Lebensraum von Mensch und Tier/Wenn die Leute sich gebärden/Als wären sie alleine hier/Sie führen Krieg gegen die Schöpfung/Und werden nicht aus Schaden klug“ – im Strom des durch Stadt und Bewusstsein Flanierenden taucht dann auch, wenn man so will, Greta auf. Ein Mann mit Klampfe, das Ich und die Welt; ein Evergreen, poetisch, frisch und klar.

Ich sing für dich

Das Musikvideo entführt uns zu den schönsten Ecken von Kiel. Na, ja, das ist zumindest mal etwas anderes als Hamburg oder Berlin. Dort singt er mit (noch ein Dylan-Moment) umgeschnallter Mundharmonika für dich, für die Alten, die Kinder, jede Frau und jeden Mann. Vielleicht auch für den Peter Maffay der späten 70er, an den dieses Lied erinnert. Ungefähr 6,23 Euro werden Jochen Distelmeyer im Videoclip von Passanten in den Gitarrenkoffer geworfen, mehr wird er auch bei Spotify nicht erlösen.