Nach sechs Jahren entdeckt Heike Schricker ein Foto ihres Bruders in der Zeitung und fährt von Soltau nach St. Pauli zur Kersten-Miles-Brücke.
St. Pauli. Kaum ist der "Anti-Obdachlosen-Zaun" an der Helgoländer Allee verschwunden, haben Obdachlose die Kersten-Miles-Brücke wieder zurückerobert. Nach nur neun Tagen, in denen eine Welle des Protests über das zuständige Bezirksamt Mitte und "Zaun-Initiator" Markus Schreiber (SPD) hineingebrochen war, herrscht an der Brücke wieder eine entspannte Atmosphäre unter den Obdachlosen.
Der Abbau des Zauns am Freitag hat nicht nur vorübergehend Kritiker befriedet. Er hat auch eine Familie wieder zusammengeführt. In der Berichterstattung der vergangenen Woche erkannte Heike Schricker aus Soltau ihren obdachlosen Bruder Uwe wieder und fuhr sofort nach Hamburg.
"Als ich das Foto gesehen habe, war ich mir sofort sicher: Das ist doch Uwe", erzählt die 47-Jährige, die mit ihrer Tochter aus dem rund 80 Kilometer entfernten Soltau angereist war. Uwe sitzt auf seiner Isomatte. Mit dem Besuch der beiden Frauen hat er nicht gerechnet. An diesem Abend nicht, aber auch sonst nicht. Seine Verwandten wiederzusehen, das konnte er sich nicht vorstellen. "Ich kann gerade gar nichts sagen. Ich bin baff", sagt der 51-Jährige, während ein paar Meter weiter sein Kumpel Jens unter der Brücke schläft. Seine Schwester und seine Nichte haben sich zu ihm unter die Brücke gehockt. Heike Schricker kramt in der mitgebrachten Plastiktüte. Duschgel hat sie mitgebracht und eine große Flasche Wasser. "Brauchst du noch Socken?", fragt sie besorgt. "Einen warmen Schlafsack?" Vor sechs Jahren haben sie einander zuletzt gesehen. Schon damals war Uwe ohne Wohnung. Bereits seit zehn Jahren macht er "Platte". Lange Zeit tingelte er durch Deutschland, bis es ihn vor fast zweieinhalb Jahren in die Hansestadt verschlug. Uwe war ganz früher einmal Berufssoldat bei der Volksarmee, diente in der DDR zehn Jahre als Stabsfeldwebel, erzählt er. Als seine Dienstzeit endete, sei es mit ihm bergab gegangen. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, verlor irgendwann den Kontakt zu seiner Familie.
Unter der Brücke will Uwe auch weiterhin schlafen. Hin und wieder wird seine Familie vorbeischauen. "Wir wissen ja jetzt, wo er ist", sagt seine Schwester Heike. "Dann können wir ihm gelegentlich ein paar Dinge bringen." Das sei doch schon mal ein Anfang. Ob er auch mal nach Soltau komme, werde man dann noch mal sehen. Was jetzt zähle, ist zu wissen, wo der große Bruder überhaupt sei. "Und dass es ihm gut geht."
Dass Uwe die Kersten-Miles-Brücke auch längerfristig als Schlafstätte nutzen kann, ist unterdessen nicht so klar. Morgen beginnt das erste Schlichtungsgespräch unter dem Vorsitz von Hans-Peter Strenge, dem Präsidenten der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Ein Zurück soll es nämlich nicht geben. Weder zu dem Zaun noch dazu, dass Obdachlose den Platz unter der Brücke wieder bevölkern. Welche Alternativen es gibt, darüber sollen sich neben Strenge acht Beteiligte Gedanken machen. Laut Strenge nehmen teil: Bezirksamtsleiter Markus Schreiber, der Vorsitzende der Bezirksversammlung Mitte, Dirk Sielmann (SPD), ein Mitarbeiter aus der Amtsleitung der Sozialbehörde, Ralph Lindenau (Präsident des Bürgervereins St. Pauli), Martin Paulekun (Pastor der St.-Pauli-Kirche), Gabi Brasch (Diakonie-Vorstand), Stephan Karrenbauer (Sozialarbeiter des Obdachlosenmagazins "Hinz & Kunzt") sowie Thieß Rohweder, Leiter der Polizeiwache an der Caffamacherreihe.
Das erste Gespräch findet morgen Nachmittag in den Räumen der Diakonie in Altona statt. "Auf neutralem Boden und nicht öffentlich, damit wir ungestört reden können", wie Hans-Peter Strenge gegenüber dem Abendblatt betont. Ein zweites Treffen werde in der kommenden Woche stattfinden, sagte der ehemalige Altonaer Bezirksamtsleiter und Ex-Justizstaatsrat dem Abendblatt. Wie viele Gespräche nötig seien, wisse er noch nicht. Klar ist aber schon jetzt, dass Strenge auf eine zügige Lösung drängen wird. Noch vor dem 1. November soll es ein Konzept geben. "Ich bin auf jeden Fall erleichtert, dass die Schlichtungsgespräche ohne den Zaun in Gang kommen. Alle Bürgerschaftsfraktionen haben gefordert, dass das am Ende Teil der Lösung sein soll. Dann kann man das auch an den Anfang stellen", so Strenge.
Eine ursprünglich gegen den Zaun gerichtete Demonstration fand trotz des Abbaus am Sonnabend statt. Laut Polizei nahmen daran etwa 350 Protestler teil. Sie demonstrierten friedlich für bessere Bedingungen für Obdachlose. Der Protestzug führte von der Kersten-Miles-Brücke nach St. Georg.
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