Der Senat hat sich noch nicht mit dem Thema befasst. Doch in der SPD-Spitze heißt es bereits: Der Zaun gegen die Obdachlosen wird fallen.
Hamburg. Trauerkränze, Friedhofskerzen und viele Protestschilder gegen den Bezirk und seinen Amtsleiter Markus Schreiber - gestern früh sieht Hamburgs umstrittenster Zaun noch aus wie eine Mischung aus Weltkriegsmahnmal und überdimensionierter Pinnwand. Dann kommen die Männer in den orangfarbenen Overalls. Ruck, zuck! räumt die Stadtreinigung das 2,80 Meter hohe und 20 Meter lange Sperrwerk gegen Obdachlose frei. Mit breiten Besen fegen die Männer die Reste von drei Protestkundgebungen des Wochenendes zusammen.
"Morgen bringen wir hier ein Schild mit Adressen an, wohin sich die Obdachlosen wenden können", sagt Lars Schmidt-von Koss unter der Kersten-Miles-Brücke. Das 1897 fertiggestellte Bauwerk ist nach dem Hamburger Bürgermeister der Jahre 1378 bis 1420 benannt, der einst die Piraten Klaus Störtebekers verfolgte.
Schmidt-von Koss, Sprecher des Bezirksamts, das den Zaun vergangene Woche aufstellen ließ, verteidigt die Entscheidung seines Chefs. "Der Bezirk muss für alle Bürger die Balance zum Besten finden, und hier gab es viele Beschwerden." Man könne ja darüber reden, ob der Zaun eine gute Wahl gewesen sei, eine Alternative sehe der Bezirk nicht. Schreiber hatte sich gestern freigenommen und war nicht zu erreichen.
Den aufgebogenen Teil des Zauns ließ der Bezirk noch am Morgen reparieren. "Da waren nur die Schrauben aufgedreht. Die werden nun verschweißt", sagt Schmidt-von Koss. Seine Botschaft: Das Bezirksamt steht zu seinem Stahlgitter. Eine völlig andere Auffassung haben hochrangige Parteimitglieder. "Der Zaun wird bald fallen", heißt es hinter vorgehaltener Hand aus der Landesebene der SPD.
Wenige Hundert Meter von der Brücke entfernt sitzen vor dem Café Lausen Krümmel und Picko auf der Reeperbahn, so jedenfalls nennen sich die 21-jährige Punkerin und der 33 Jahre alte "Weltenbummler" mit den zerzausten Haaren. Picko hat sein Hemd ausgezogen, die Septembersonne wärmt den nackten Oberkörper. Sie sitzen da, trinken Wodka und Multivitaminsaft. Vier Hunde dösen matt auf dem Gehweg.
Picko und Krümel sagen, sie hätten oft unter der Kersten-Miles-Brücke geschlafen. "Es ist eine gute Stelle, trocken, wir haben Schlafsäcke, Matratzen und Gaskocher", sagt Picko. Krümel schaut ihn an, dann kramt sie in einem vollgepackten Einkaufswagen nach einer Zeitung. Picko sei erst gestern von einem Trip zurückgekommen, sagt sie. Vom Zaun weiß er noch nichts.
Krümel gibt ihm die Zeitung. "Oiii. Alder. Das geht so nicht", bellt Picko. Dann flucht er derb. "Die haben uns unser Zuhause weggenommen." Die letzte Nacht habe sie unter dem Vordach des St.-Pauli-Fanshops verbracht, sagt Krümel. "Wenn es kälter wird, ziehen wir weiter, wohin, keine Ahnung." Nur in die Obdachlosenunterkünfte können sie nicht. "Wegen der Hunde. Die lassen uns nicht rein."
Wie die Punker sitzen auch die Senioren gestern Mittag in der Sonne. Die Rentner in der Seniorenwohnanlage oberhalb der Helgoländer Chaussee wohnen am dichtesten an der Brücke. Bezirksamtschef Markus Schreiber dienten sie als Kronzeugen der Anklage. Die Kersten-Miles-Brücke sei ein "Angstraum" gewesen, den Anwohner gemieden hätten.
Doch die Senioren haben ihre ganz eigene Meinung. "Natürlich hat es gestunken", sagt Liselotte Strehlow, 79, im Garten der Residenz, "aber für das Geld hätte Herr Schreiber besser Dixi-Klos aufgestellt." 18 000 Euro hat der Zaun gekostet. Zweimal pro Woche, immer wenn sie zu den Landungsbrücken spazieren geht, kommt Liselotte Strehlow unter der Brücke durch. "Angepöbelt hat mich nie jemand."
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"Ja, wir haben einmal bei der Polizei angerufen. Es gab Lärm, wir dachten, sie schlagen die Hunde", erzählt Nachbarin Helga de Cortes, 74. Nachts seien die Punks und Obdachlosen manchmal sehr laut gewesen, oft betrunken. Der Zaun sei trotzdem übertrieben. Aber wer aus der Wohnanlage hat sich dann beschwert? "Ach, wissen Sie, Meckerbüddels gibt es doch überall, wir sind hier 200 Mietparteien", sagt de Cortes. Keiner will der gewesen sein, der das Bezirksamt informierte. Auch fünf weitere Senioren schütteln den Kopf.
Gereizt bis trotzig, so ließ sich gestern die Stimmung in der SPD Mitte beschreiben. "Alle sind unglücklich", ist noch eine der verhaltenen Reaktionen. Intern wird über Alternativen zum Zaun nachgedacht oder der Abriss gefordert. Eine diskutierte Möglichkeit: Der Bezirk könnte den Zaun abreißen und die Stein-Schikanen so weit ausbauen, dass sie das Schlafen unter der Brücke verhindern. Man könnte einige Steine als Mini-Poller einbauen.
Der Einbau der Steine (als eine Art schräges Holperpflaster) hatte im Januar dieses Jahres rund 100 000 Euro gekostet und wurde der Öffentlichkeit als "Nachbau eines Bachbetts" verkauft - war aber eigentlich immer nur als Wasser-Schikane gedacht. In der Senke sammelt sich bei Regen Wasser, Obdachlose können dort nicht mehr schlafen. Weil sie aber trotzdem nicht abzogen, kam nun der Zaun.
Die parteiinterne Gereiztheit resultiert aus dem Gefahrenpotenzial. Schreiber habe sich in eine Zwickmühle manövriert: Ein Abbruch des Zauns würde als Eingeständnis eines Fehlers gewertet und schädigte das Ansehen des Bezirksamtsleiters. Wenn jedoch der Zaun stehen bleibt, könnte der Protest so heftig werden, dass Schreiber in seiner Position als Amtschef gefährdet ist. "Eine Katastrophe!", sagen die einen. "Unglücklich gehandelt", sagen die anderen. Vorerst dominiert bei den Bezirks-SPD-Politikern die trotzige Haltung: Wer den Abriss fordert, muss erst Alternativen vorweisen.
Die meisten Sozialdemokraten haben das Thema - und besonders die Reaktion der Öffentlichkeit - auf so etwas Symbolträchtiges wie einen Zaun massiv unterschätzt. Und einige, die schon immer die Öffentlichkeitsarbeit des Bezirkschefs kritisieren, lachen sich nun ins Fäustchen, weil ebenjene Öffentlichkeit nun so heftig reagiert.
Nur einer wagte gestern, seine ablehnende Meinung dem Abendblatt offen kundzutun: SPD-Urgestein und Maler Hubert Piske, 74, ist gegen den Zaun. Er sagte: "Der Ort an der Brücke sollte attraktiver werden, das heißt anziehend. Ein Zaun ist jedoch abstoßend und nicht anziehend. Man sollte sich etwas anderes überlegen."
Der Senat hat sich bislang noch nicht offiziell mit dem Thema befasst. Sollte er allerdings zu dem Entschluss kommen, dass der Zaun abmontiert werden muss, könnte er die Entscheidung Schreibers kassieren. Dies wäre ein harter und unüblicher Eingriff in die Eigenverantwortlichkeit des Bezirks. Schließlich ist es erklärtes Ziel, die Bezirke in ihren unabhängigen Entscheidungen zu stärken.
Der Bezirk Mitte hatte im vergangenen November mit den Stimmen der Koalition von SPD und GAL entschieden, 100 000 Euro in den Umbau der Brücke zu investieren. Die Bezirksversammlung wollte damit verhindern, dass sich die "Situation der Obdachlosen dort weiter verfestigt", wie es in dem Antrag der rot-grünen Koalition hieß. Da dies allein wie berichtet keinen Erfolg hatte, entschied sich Schreiber für den Bau des Zauns. Doch nicht nur in Senat und Parteien ist der "Anti-Obdachlosen-Zaun" ein Gesprächsthema, auch bei Freds Stadtrundgang der ungewöhnlichen Art. Selbst obdachlos führt Fred vom Straßenmagazin "Hinz & Kunzt" regelmäßig Touristen zu den "Nebenschauplätzen", dorthin, wo sich die Hamburger Obdachlosen aufhalten, Hilfe oder ein warmes Essen bekommen. Er will einen Einblick in ihren Alltag geben.
Gestern Nachmittag folgten ihm 13 Touristen aus Schweden, Italien und Großbritannien, eine Reisegruppe der EU. In seinem blau karierten Hemd sieht Fred zwar nicht aus wie der "typische" Obdachlose, und doch, er lebt seit 18 Jahren auf der Straße. Er kennt die kleinen Schikanen der Stadtplaner, die den Berbern das Leben schwer machen. "Hast du dich schon mal im Winter auf eine Metallbank gelegt, die auch noch so kurz ist, dass du dich nicht ausstrecken kannst?", fragt er in die Runde. Früher, da habe es Holzbänke gegeben, "das ist im Gegensatz zu Metall richtig angenehm", sagt Fred. Doch die wurden ausgewechselt. Er zeigt auf einen Mülleimer. "Abgerundet, genau wie die Straßenpoller. Du kannst nirgendwo in der Innenstadt etwas abstellen." Es sind nur Kleinigkeiten, aber so würden Obdachlose ausgegrenzt.
Doch das Bild, das Fred von Hamburgs Verhältnis zu den Obdachlosen vermittelt, ist nicht einfarbig schwarz. Es gebe auch Helfer und gute Seelen in der Stadt. So beginnt er den Rundgang am "Stützpunkt" der Caritas, wo Obdachlose tagsüber ihren Besitz in Schließfächern lagern können. "Ich komme hier fast jeden Tag hin. Mein Gepäck wiegt an die 30 Kilo, das kann ich nicht immer mit mir herumtragen", erklärt Fred und verschränkt seine Arme. Schlafsack, Geschirr, Radio - auch vor Diebstahl muss der 47-Jährige seine Sachen schützen.
Während er sich eine Zigarette dreht, geht es zu Herz As an der Norderstraße. Etwa 130 Obdachlose kommen täglich hierher, um sich ein warmes Mittagessen abzuholen. "Hungern muss man in Hamburg nicht", betont Fred. Er kennt mehr als 30 Essensausgabestellen in der Hansestadt. Auch für Drogenabhängige gibt es Hilfe. Im Drob Inn an der Kurt-Schumacher-Allee, der nächsten Station, können selbst mitgebrachte Drogen unter ärztlicher Aufsicht konsumiert werden. Etwa 800 Süchtige kommen am Tag. "Dass ein Arzt da ist, gibt den Leuten Sicherheit. Sie können ihre Drogen unter hygienisch sauberen Bedingungen nehmen, und wenn doch etwas schiefgeht, dann ist sofort jemand da, der ihnen hilft."
Eines hat der Zaun des Bezirksamts Mitte erreicht. Egal ob unter der Brücke, in der Seniorenresidenz, auf dem Kiez, beim Touristenrundgang oder in der verantwortlichen Partei: Hamburg diskutiert über die Obdachlosen der Stadt. Selbst Schulklassen befassen sich mittlerweile intensiv mit dem Thema. An der Grund- und Hauptschule Meckelfeld in Seevetal sollten die Sechstklässler im Fach "Werte und Normen" ihre Gedanken zu Papier bringen. "Schnell kann jeder in die traurige Situation geraten", schrieben sie. Ihr Fazit: "Obdachlose sind auch Menschen."