Der Hamburger Pädagoge Martin N. hat gestanden, die Jungen Dennis K., Stefan J. und Dennis R. getötet zu haben. Möglicherweise nicht die einzigen Opfer.
Hamburg/Verden. Es ist wie so oft nach der Aufklärung schrecklicher Verbrechen: Der Täter fiel niemandem auf, konnte sich lange hinter einer Maskerade verbergen. So auch Martin N., der mutmaßliche Mörder der kleinen Jungen Dennis K., 8, Stefan J., 13, und Dennis R., 8. Bei den wenigen, die ihn kannten, galt er als nett, höflich, hilfsbereit. Zehn Jahre lang lebte Pädagoge N. zurückgezogen und unauffällig in einem gelbgrauen Wohnhaus an der Jägerstraße in Hamburg-Wilstorf, einem Stadtteil von Harburg. Seit Freitag wissen die Nachbarn des 40-Jährigen, dass sie Tür an Tür mit einem mutmaßlichen Serienmörder gelebt haben. Der Pädagoge gestand, im Jahr 2001 Dennis K. aus einem Schullandheim entführt und ermordet zu haben. Außerdem gab er die Morde an Dennis R. und Stefan J. zu und räumte ein, seit 1992 mehr als 40 Kinder sexuell missbraucht zu haben.
Martin N. war bei der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort GmbH von Mai 2000 bis zum 22. Januar 2008 beschäftigt. Während seiner gesamten Beschäftigungszeit sei er er als ein freundlicher, engagierter und kompetenter Mitarbeiter in Erscheinung getreten, gab die Friedenshort GmbH bekannt. Am 10. Januar 2008 seien erstmals durch ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Hamburg Kenntnisse über Vorwürfe gegen Herrn N.aufgetaucht. Gegenstand der Mitteilung war ein gegen Herrn N. geführtes und wegen Verjährung eingestelltes „Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Besitzes und Verschaffens kinderpornographischer Bilder“. Dies führte bei zur sofortigen Entlassung des Herrn N.
Und es könnten möglicherweise weitere Taten Martin N.s ans Tageslicht kommen. Einem "Spiegel“-Bericht zufolge hat der Pädagoge früher offenbar auch Pflegekinder betreut. Demnach soll er nach Aussage früherer Nachbarn Ende der 90er Jahre wiederholt "etwa 10 bis 15 Jahre alte Pflegekinder“ in seiner Bremer Wohnung bei sich aufgenommen haben. Die Polizei wollte sich am Sonnabend aus ermittlungstaktischen Gründen nicht zu dem Bericht äußern.
Seit Einzelheiten zu dem als "schwarzer Mann“ und "Maskenmann" bekannten 40-Jährigen öffentlich geworden seien, habe es Anrufe mit gezielten Hinweisen gegeben, sagte ein Sprecher der Polizei in Verden der Nachrichtenagentur am Sonnabend. Diese würden nun ausgewertet. Die Polizei geht davon aus, dass die Ermittlungen noch Monate dauern werden.
Hatte es möglicherweise schon eher Anzeichen für die Neigungen und Triebe von Martin N. gegeben? Laut Friedrich Schwerdtfeger, forensischer Psychiater und Chefarzt am Klinikum Bremen-Ost, handelt es sich bei Sexualtätern wie N. häufig "um Menschen, die im Kindesalter durch sadistische Handlungen, etwa Tierquälereien, aufgefallen sind, dann immer weitreichendere Fantasien entwickelten". Diese Fantasien könnten in konfliktträchtigen Situation immer intensiver werden. Nicht selten stammten die Täter aus zerrütteten Elternhäusern, wüchsen bei einer alleinerziehenden Mutter auf und/oder hätten selbst schwere Gewalterfahrungen gemacht. Was Martin N. zu den Taten an Dennis K., Stefan und Dennis R. antrieb, sei jedoch schwer zu sagen, "da diese Tätergruppe sehr uneinheitlich ist", so Schwerdtfeger. "Zum einen haben wir Täter, die töten, um eine Straftat zu verdecken. Die zweite Tätergruppe sucht Opfer, die - wie Kinder - leicht verfügbar und kontrollierbar sind, um dann ihre aggressiven Sexualfantasien auszuleben. Hierzu gehören auch Täter aus dem pädo-sadistischen Spektrum."
Martin N. kommt aus Bremen. Früh suchte er den Kontakt zu Kindern. Er studierte auf Lehramt, arbeitete als Pädagoge mit Kindern zusammen. Er war Jugendbetreuer auf Ferienfreizeiten, war in Schullandheimen tätig. Zuletzt arbeitete er in Hamburg in der Erwachsenenbildung. Seit seinem 21. Lebensjahr ist N. alleinstehend. So war er wenig sozialer Kontrolle unterworfen. Und so konnte er offenbar seine pädophilen Neigungen ausleben.
Maja ist an diesem Freitag nach Wilstorf gekommen, an die Jägerstraße, zum Haus des Täters. Die 21-Jährige kann nicht glauben, was sie über Martin N. erfahren hat. Sie kennt ihn aus der Zeit, in der sie in einer Harburger Jugendwohnung gelebt hat - ein betreutes Wohnprojekt der evangelischen Jugendhilfe. Maja selbst hat von 2004 bis 2008 in der Wohnung gewohnt, im Alter von 14 bis 18 Jahren. "Martin war einer der Betreuer. Martin hat immer wieder Jungs zu sich nach Hause eingeladen. Das fand ich, ehrlich gesagt, ziemlich merkwürdig. Aber die Jungs haben nichts gesagt, deshalb dachte ich, dass wohl alles in Ordnung sein müsste."
Maja berichtet von Playstation-Abenden in Martins Wohnung, häufig sei er auch abends in die Jugendwohnung gekommen. "Da saß er manchmal mit den Jungs unter einer Decke. Im Rückblick ist das schon ziemlich komisch."
Als 18-Jährige zog Maja aus der Jugendwohnung aus. "Martin war immer supernett. Er hat einfach sehr viel für uns getan", sagt sie. Dass er ein Mörder ist, sei für sie "nicht zu fassen".
Im Jahr 2008 habe er seinen Job bei der Jugendhilfe verloren. Weil seine Chefs erfahren hätten, dass gegen ihn ermittelt wurde.
Die Hamburger Polizei und Staatsanwaltschaft haben von seinen Neigungen zu Jungen erstmals vor sechs Jahren erfahren. Eine Mutter zeigte ihn an, weil er sich an zwei sechs und acht Jahre alten Jungen vergangen haben soll. Das Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn wurde 2005 eröffnet, aber gegen Zahlung von 1800 Euro wieder eingestellt. Das Gericht begründete dies damit, dass die Tat sich am "unteren Ende der Strafbarkeit" befände.
Ein Jahr später verhandelte das Amtsgericht Harburg gegen ihn wegen versuchter Erpressung. Erneut gab es einen Zusammenhang zur Pädophilie. N. hatte von einem Bekannten aus Berlin 20 000 Euro gefordert, sonst würde er kinderpornografische Bilder aus dessen Besitz an den Arbeitgeber sowie die Ermittlungsbehörden weiterleiten. Martin N. wurde 2006 zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.
"Seitdem hat Martin N. nach unseren Erkenntnissen unauffällig in Hamburg gelebt", sagt der Hamburger Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. "Er gilt als sozial unauffällig, nett, hilfsbereit, zurückhaltend, akkurat und intelligent. Ein nach außen normales Leben, das ihm ermöglichte, ein Doppelleben zu führen", sagt der Soko-Chef Erftenbeck.
Die Hamburger Nachbarn des mutmaßlichen Täters sind entsetzt. "Wenn ich mir überlege, dass ich Tür an Tür mit einem Mörder gewohnt habe, dann ist das der Horror", sagt Dieter Drogand, der im gleichen Haus wie Martin N. wohnt. Er habe nichts von der Verhaftung mitbekommen. N. sei zurückhaltend gewesen, hätte aber immer freundlich "Guten Tag" gesagt. "Der war ein Eigenbrötler", sagt Drogand.
+++ Leitartikel: Das Böse hat einen Namen +++
Fest steht: Mit der Festnahme von Martin N. ist einer der spektakulärsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte aufgeklärt. Zehn Jahre lang hatten die Beamten der Soko "Dennis" mit einer Phantomzeichnung nach dem "schwarzen Mann" gefahndet, der mit einer Motorradsturmhaube maskiert seine Opfer aus Schlafsälen und Zeltlagern entführt hatte. Mehr als 8000 Hinweise gingen ein, rund 1000 Sexualstraftäter wurden überprüft - darunter im Jahr 2007 auch Martin N. Es war eine Routineüberprüfung. Grund: Der Pädagoge, der früher in der Jugendbetreuung arbeitete, zuletzt aber mit Erwachsenen, stand 2005 in Hamburg wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs zweier Jungen vor Gericht. Laut Anklage hatte er ihnen in seiner Wohnung den nackten Bauch gestreichelt, um sich sexuell zu erregen. Das Verfahren wurde gegen eine Zahlung von 1800 Euro eingestellt. Auch die Soko "Dennis" ließ ihn mangels Beweises wieder laufen.
+++ Die Mordserie des Martin N. +++
Dass es jetzt doch noch einen Durchbruch gab, ist einem jungen Mann aus Bremen zu verdanken. Dieser war 1995 im Alter von zehn Jahren in seinem Elternhaus überwältigt und missbraucht worden. Nach einem neuen Fahndungsaufruf der Soko Dennis im Februar erinnerte er sich, dass er damals vor der Tat bei einem Aufenthalt in einem Schullandheim von einem Betreuer auffällig intensiv nach seiner Adresse befragt worden war. Nach dieser Aussage überprüften die Fahnder die Mitarbeiterlisten des Heimes. Dabei stießen sie auf den Namen Martin N.
Am frühen Mittwochmorgen nahmen Kripo-Beamte ihn vor seiner Wohnung in Wilstorf fest. "Er war überrascht", sagte Soko-Chef Martin Erftenbeck. Die Fahnder rechnen Martin N. noch Morde an zwei weiteren Jungen in Frankreich und den Niederlanden zu. Diese hat er bislang nicht gestanden.
+++ Traumatologin: "Festnahme kann alte Gefühle reaktivieren" +++
Das Ende der jahrelangen Suche nach dem Jungen-Mörder hat nicht nur bei Angehörigen und in der Bevölkerung Erleichterung ausgelöst. Auch die mit den Fällen befassten Ermittler zeigen sich gelöst. Als Detlev Kaldinski der Anruf erreichte, dass der Täter gefasst ist, "da habe ich feuchte Augen bekommen." Kaldinski war jahrelang Pressesprecher der Soko "Dennis". "Ich weiß nicht, ob vor Glück, dass dieser Mann aus dem Verkehr gezogen ist oder ob vor Grauen über diese schrecklichen Taten", sagt Kaldinski.
Der Polizist war von Anfang an hautnah dabei: "Ich war als einer der ersten am Leichenfundort und habe dort den toten Dennis gesehen." Die Bilder von damals haben sich ihm tief eingeprägt. Kaldinski hat unzählige Pressemitteilungen geschrieben und Auskünfte gegeben, sobald es neue Hinweise gab. Wie ihn hat der Tod von Dennis eine Vielzahl von Beamten jahrelang beschäftigt: "Ganz viele Kollegen haben über Jahre Hunderte Überstunden gemacht", erinnert sich Kaldinski. Ganz viele seien selbst Eltern: "Wir konnten uns da so reindenken und es war immer allen bewusst, dass so etwas auch uns passieren könnte."
Kaldinski sagt, er habe ganz großen Respekt vor der Leistung der Sonderkommission, die darin gipfelte, dass sie den Täter nun gefasst habe. Hat er selbst denn nie die Hoffnung aufgegeben? "Nein, ich habe immer daran geglaubt, dass er überführt wird", sagt der Polizeibeamte. "Wir haben mit unserer Arbeit richtig gelegen. Der Mann entspricht genau dem Bild, das wir seinerzeit von ihm gezeichnet haben." Schon sehr früh hatten die Ermittler den Zusammenhang zwischen den Sexualtaten hergestellt. Dass die Sonderkommission über all die Jahre durchgehalten habe, sei schließlich entscheidend für den Fahndungserfolg gewesen. "Die Soko ist immer wieder an die Öffentlichkeit gegangen. Ich denke, das hatte auch gefahrenabwehrende Wirkung. Dadurch ist erheblicher Druck auf den Täter entstanden."
Detlev Kaldinski, der nach der Verlagerung der Soko "Dennis" an die Dienststelle in Verden nicht mehr direkt mit dem Mordfall zu tun hatte, hat sich 2008 ein Versprechen gegeben: "Ich bin schon einmal den Jakobsweg gegangen, in zwei Etappen 2007 und 2008. Damals habe ich versprochen, dass ich den Weg noch einmal gehe, wenn der Mörder von Dennis gefasst ist." Bald wird er aufbrechen.
Martin N. sitzt jetzt in einem Gefängnis in Niedersachsen ein. Noch in diesem Jahr soll er vor Gericht kommen. Er soll überrascht gewesen sein, als die Beamten ihn am vergangenen Mittwoch in Hamburg festgenommen haben. Soko-Chef Martin Erftenbeck sagt, dass N. mitgenommen gewirkt habe, als er von seinen Opfern gesprochen hat. In anderen Momenten sei Martin N. jedoch ruhig und völlig gefasst: "Seine seelische Verfassung ist nur schwer einzuschätzen."
Mit Material von dapd