Ulrich J., Vater des ersten Mordopfers, hat trotz des Geständnisses von Martin N. noch viele Fragen an die Ermittler.
Hamburg. Das Geständnis des 40-jährigen Hamburgers Martin N., den neunjährigen Dennis K. aus dem niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck im September 2001 entführt und anschließend ermordet zu haben, hat auch in Tangstedt vor den Toren Hamburgs erst einmal große Erleichterung ausgelöst. Bei Ulrich J. klingelte gestern pausenlos das Telefon. Bekannte und Verwandte riefen bei ihm an und "brachen fast in so eine Art Jubel aus", erzählt er.
Ulrich J., 67, steht vor seinem Haus in einer ruhigen Seitenstraße. Hier hatten am Morgen zwei Kontaktbeamte der Polizei geklingelt und ihn darüber informiert, dass man im Mordfall Dennis einen Täter gefasst habe. Und dass dieser auch gestanden habe, am 30. März 1992 den damals 13-jährigen Stefan J. getötet zu haben.
Nach 19 Jahren scheint es so, dass jetzt die Suche des Vaters nach dem Mörder seines Sohnes zu Ende ist. Und alles deutet darauf hin, dass Stefan J. das erste Mordopfer des sogenannten schwarzen Mannes gewesen ist.
Stefan hatte seit dem August 1991 das Internat Eichenschule in Scheeßel im Landkreis Rotenburg/Wümme besucht. Sein Verschwinden wurde am Morgen des 31. März 1992 bemerkt, als er gegen 6 Uhr nicht mehr in seinem Bett lag. Im Aufenthaltsraum wurde sein Schlafanzug gefunden. Fünf Wochen später wird 40 Kilometer vom Internat entfernt die Leiche von Stefan entdeckt. Er war in den Verdener Dünen vergraben, die Hände des Jungen waren auf dem Rücken gefesselt.
19 Jahre lang hat Ulrich J. versucht herauszufinden, was mit seinem Sohn geschehen ist. Er hat Akten gewälzt und selbst Ermittlungen angestellt. Er ist jeder denkbaren Spur nachgegangen, er hat sich jede mögliche Frage gestellt und konnte keine Ruhe finden.
Jetzt muss er selbst erst einmal ganz viele Fragen beantworten. Am Telefon im Minutentakt die von seinen Bekannten und Verwandten, vor der Tür die von einem Fernsehteam von RTL. Wie er die Nachricht von der Verhaftung und dem Geständnis des mutmaßlichen Mörders seines Sohnes aufgenommen habe, will die Reporterin wissen. "Das kam für mich völlig überraschend, damit habe ich überhaupt nicht gerechnet", sagt Ulrich J.
Er spricht ruhig, macht längere Pausen zwischen den Sätzen, und man merkt ihm an, dass er der ganzen Sache noch nicht recht traut.
Er hat dafür auch gute Gründe. Denn schon einmal ist ein Verdächtiger in dem Fall verhaftet worden und saß drei Monate im Gefängnis, weil er kein Alibi für die Tatzeit hatte. Doch dann fanden sich Zeugen, die dem Mann ein Alibi gegeben haben.
Vielleicht auch deshalb bleiben für Ulrich J., trotz des Geständnisses von Martin N., noch Zweifel. Er hat noch so viele Fragen. Was ist mit dem genauen Todeszeitpunkt? Wann wurde die Leiche seines Sohnes in den Dünen vergraben? Warum wurden zwei bestimmte Personen, die er benannt hat, damals nicht bei einem Massen-Gentest berücksichtigt?
Das interessiert auch die RTL-Reporterin: "Sind Sie erleichtert oder bleiben noch Zweifel?" "Einerseits spüre ich eine große Erleichterung, wenn mit dem Geständnis und der Überführung des Täters die Suche nach 19 Jahren zum Abschluss kommt", sagt der 67-Jährige. Und andererseits? "Andererseits bleiben gewisse Zweifel. Ich brauche jetzt einfach mehr Einzelheiten über den Täter und die Ermittlungen."
Sein momentanes Gefühl sei "merkwürdig", weil er hoffe, dass es jetzt zu Ende geht, und wisse, "dass noch jede Menge auf einen zukommt".
Was hat er gedacht, als er die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgt hat? "Ich habe die Informationen aufgenommen und auf bestimmte Fragen geachtet, die für mich wichtig sein könnten", sagt er.
Das Wichtigste ist für ihn: Gibt es einen DNA-Beweis? "Der hätte alles klar gemacht", sagt Ulrich Jahr. Aber weil es den wohl im Falle seines Sohnes nicht gibt, "nagt der Zweifel in mir".
Er sagt, dass er genug Fälle kenne, in denen die Täter ihre Geständnisse nach ein paar Tagen widerrufen haben. Und deswegen will er wissen, was die Ermittler der Sonderkommission tatsächlich an Beweisen gegen Martin N. vorliegen haben.
Ulrich J. will die genauen Einzelheiten zum Tathergang erfahren. Er wird sie dann mit seinen eigenen Recherchen und Ermittlungen vergleichen. Und er hofft so sehr, dass beides dann übereinstimmt.
An diesem Sonnabend feiert der Mann mitseinen 68. Geburtstag. Feiern ist in diesem Zusammenhang mit Sicherheit das falsche Wort, aber vielleicht ist es der Tag, an dem der groß gewachsene Mann aus Tangstedt so eine Art Erlösung finden kann. "Durch die Aufklärung wird mein Sohn nicht wieder lebendig", sagt er in die TV-Kamera. "Aber die ständigen Überlegungen werden dann vielleicht aufhören. Und ich hoffe, dass ich dann endlich zur Ruhe kommen kann."
Zum Schluss will die RTL-Reporterin von dem früheren selbstständigen EDV-Berater wissen, was er fühlt, wenn sich die Ermittlungen der Sonderkommission als richtig herausstellen werden und wenn Martin N. wirklich als Mörder seines Sohnes überführt werden wird. "Wenn es sich bewahrheitet", sagt Ulrich J., "ist das der Moment, auf den ich seit 19 Jahren gewartet habe."
Wenig später winkt ein Nachbar über den Gartenzaun, grüßt Ulrich J. mit einem kurzen Kopfnicken und ruft: "Endlich haben sie ihn."
"Ja", antwortet er, "ich hoffe."