Berlin. Die Ampel liegt im Dauerstreit, ist Christian Lindner der Buhmann der Koalition? Im Interview findet er klare Worte - auch zum Bürgergeld.

Rücksichtslos, unanständig, unseriös: Die Kritik aus der Ampel an Christian Lindner ist massiv und hält an. Selbst der Bundeskanzler entschied sich, die Kompetenz seines Finanzministers in Zweifel zu ziehen. Im Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion weist der FDP-Vorsitzende den Vorwurf von sich, er habe den Haushaltsstreit zur eigenen Profilierung neu entfacht – und liefert weiteren Zündstoff.

Herr Lindner, wie fühlen Sie sich als Buhmann der Koalition? 

Christian Lindner: Bin ich das? Für mich ist relevanter, dass ich die Interessen der Bürger und Steuerzahler vertrete. Erstens müssen wir einen Haushalt aufstellen, der die Regeln der Verfassung beachtet. Wir dürfen nicht uferlos neue Schulden machen und Zinsen zahlen, weil der Politik der Mut zur Prioritätensetzung fehlt. Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger entlastet werden, damit es wieder einen Aufschwung gibt. 23 Milliarden Euro sind für die kommenden beiden Jahre geplant. Und drittens müssen wir neue Schwerpunkte setzen bei Bildung, Infrastruktur, Digitalisierung, Sicherheit und Bundeswehr. Darum bemühe ich mich. Dass es deswegen Kritik gibt, das können die Menschen selbst einordnen.

Es gibt Kritik, weil Sie einen mühsam errungenen Haushaltskompromiss in der Sommerpause torpediert haben. 

Lindner: Wir haben einen Haushaltsentwurf beschlossen, der noch einen Handlungsbedarf von 17 Milliarden Euro umfasst. Dazu wurden insbesondere drei verfassungsrechtliche und ökonomische Prüfaufträge verabredet. Dem Bundestag war zugesagt, die erforderlichen Stellungnahmen eines juristischen Gutachters und des Wissenschaftlichen Beirats beim Finanzministerium zur Verfügung zu stellen. So ist es gekommen.  

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Ist es guter Stil, die Koalitionspartner dabei öffentlich zu überrumpeln?

Lindner: Ich habe mich an das vereinbarte Verfahren gehalten. Die Gutachten sind nicht geheim. Vertraulich sind die Beratungen zu den Konsequenzen daraus. 

Kanzler Scholz schickte aus dem Urlaub eine Botschaft in seltener Schärfe: „Es bleibt ein Mysterium, wie das eigentlich klare Votum des juristischen Gutachtens vorübergehend grundfalsch aufgefasst werden konnte.“ Haben Sie sich vertan? Müssen Sie sich entschuldigen?  

Lindner: Ich fühle mich von der Botschaft des Kanzlers nicht angesprochen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP).

„ Dann wäre es ein Bruch der Verfassung. “

Christian Lindner

Wie das? Scholz hat Sie gemeint.

Lindner: Das ist Ihre Interpretation.

Und Sie haben auch nichts zurückzunehmen?

Lindner: Nichts. Es gibt Unterschiede in der Interpretation der Stellungnahmen, aber mein Ministerium hat nie vertreten, dass die Vergabe von Darlehen prinzipiell verfassungswidrig wäre. Allerdings dürften solche Darlehen nicht so ausgestaltet sein, dass es in Wahrheit verdeckte Zuschüsse sind. Dann wäre es eine Umgehung der Schuldenbremse und damit ein Bruch der Verfassung. Außerdem kann die Ersetzung von Zuschüssen durch Darlehen möglicherweise unwirtschaftlich sein. 

Was sagen Sie jenen, die den Eindruck bekommen, Sie sammeln Gründe für Neuwahlen?

Lindner: Deutschland braucht Stabilität. Wenn alle die Verfassung achten, die Bestimmungen des Koalitionsvertrages und die Grundüberzeugungen der Koalitionspartner, dann muss sich niemand sorgen.

Was ist übrig von einer Koalition, wenn der Streit die Spitze erreicht?

Lindner: Für mich hat sich die Art der Zusammenarbeit nicht verändert. Es ist ja nicht erst seit heute so, dass es grundlegende politische Unterschiede gibt, die man respektvoll miteinander bespricht. Die FDP ist eben eine Partei, die lieber Steuern senkt als erhöht und die lieber Ausgaben prüft, als mehr Schulden zu machen.

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Wann setzen Sie sich mit Scholz und Vizekanzler Habeck zusammen, um die fehlenden Milliarden zu finden?

Lindner: Wir arbeiten fortwährend miteinander. Wir werden den Haushaltsentwurf planmäßig Mitte August dem Bundestag zuleiten. Ende November soll planmäßig der Bundestag beschließen. Bis dahin werden noch viele offene Fragen zu beantworten sein. Übrigens kommen ja auch noch Wirtschaftsprognosen, die eingearbeitet werden.

Wie wollen Sie die Lücke schließen?

Lindner: Es geht unter dem Strich um fünf Milliarden Euro. Das kann man bei gutem Willen lösen. Ich werde allerdings in Interviews keine Vorschläge machen. Das wäre dann schlechter Stil. 

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr hat bereits Vorschläge gemacht. Er sieht weiteres Sparpotenzial im Sozialetat und bei der Entwicklungshilfe. Ist das mit Ihnen abgestimmt?

Lindner: Es ist kein Geheimnis, dass die FDP-Fraktion hier weiteres Potenzial sieht. Umgekehrt lese ich aus der SPD-Fraktion und von den Grünen Vorschläge zu Steuererhöhungen und Notlagenbeschlüssen, obwohl die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für eine Haushaltsnotlage gewiss nicht mehr vorliegen. Wir werden nach der nächsten Bundestagswahl über Reformen neu sprechen. Wir müssen den Sozialstaat treffsicherer machen. Wir brauchen mehr Empathie für wirklich sozial Schwache und Bedürftige – aber auf der anderen Seite mehr Konsequenz bei Trittbrettfahrern, die Geld von diesem Staat wollen, obwohl sie arbeiten könnten, oder die sie sich illegal in unserem Land aufhalten. 

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Geht die vereinbarte Bürgergeld-Reform der Ampel nicht weit genug?

Lindner: Es ist ein großer Schritt. Die Entscheidungen zu Sanktionen, Meldepflichten, Zumutbarkeit und Schonvermögen, mit denen wir den fordernden Charakter des Bürgergeldes stärken wollen, sind richtig. Weitere Schritte werden folgen müssen. Es gibt zwar eine Nullrunde beim Bürgergeld 2025. Gegenwärtig ist der Lohnabstand aber immer noch zu gering.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm möchte Subventionen für den Klimaschutz kürzen. Die Ökonomin weist darauf hin, dass die Solar- und Heizungsförderung vor allem Wohlhabenden zugutekommt. Gehen Sie auf den Vorschlag ein? 

Lindner: Was die Solarförderung betrifft, besteht ein dringender Handlungsbedarf. Die Subventionen sind massiv gestiegen. Dabei ist eine Förderung gar nicht mehr in der Breite nötig, weil es sich rechnet. Das muss schnellstmöglich beendet werden.

Schnellstmöglich bedeutet?

Lindner: Wir haben uns bereits darauf verständigt, dass die Subventionen für erneuerbare Energien spätestens mit dem Kohleausstieg beendet werden. Aus meiner persönlichen Sicht könnten wir deutlich schneller sein. Die neue Kleinanlage auf dem Hausdach habe ich von der Mehrwertsteuer befreit, das ist bereits Förderung genug. Als Sofortmaßnahme wird die Regierung zudem jede Förderung bei negativen Strompreisen, also wenn Energie im Überfluss im Netz ist, beenden.

Lesen Sie hier: Top-Ökonomin: Darum hat Lindner im Haushaltsstreit recht

Können Sie kurz sagen, warum Sie sich einer Reform der Schuldenbremse so hartnäckig verweigern? Ein Chor namhafter Ökonomen würde Ihnen ein Loblied singen …

Lindner: … andere namhafte Ökonomen würden mich verfluchen. Ich habe Vorschläge gemacht. Wenn wir zurück auf dem Schuldenniveau von vor Corona sein werden, werde ich die Tilgungspläne ändern. Das bringt uns gut neun Milliarden Euro für Investitionen ohne Verfassungsänderung.

Was viele vergessen: Selbst wenn man eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für eine Lockerung der Schuldenbremse hätte und der lästige Christian Lindner weg wäre, gibt es noch europäisches Recht. Der Stabilitätspakt lässt schlicht nicht die Milliardenschulden zu, von denen manche links der Mitte und in der CDU träumen. Deutschland müsste vorsätzlich die EU-Regeln brechen. Das hätte verheerende Auswirkungen auf die Stabilität der Währungsunion, weil eine linke Regierung in Frankreich dann erst recht jede Disziplin verlieren könnte. Eine neue Schuldenkrise muss verhindert werden. Deutschland hat eine Vorbildfunktion. 

Bundesfinanzminister Christian Lindner möchte die Subventionen für erneuerbare Energien schneller als bisher geplant beenden.
Bundesfinanzminister Christian Lindner möchte die Subventionen für erneuerbare Energien schneller als bisher geplant beenden. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Wie vorbildlich ist es, ausgerechnet bei der Verteidigung zu sparen und Wünsche von Minister Pistorius zu ignorieren?  

Lindner: Kein Finanzminister der vergangenen 30 Jahre hat so viel zur Stärkung der Bundeswehr getan wie ich. Ich habe die Initiative ergriffen für das 100-Milliarden-Sondervermögen, und auch jetzt steigt der Wehretat noch einmal an, während andere Etats reduziert werden. Herr Pistorius hat im Gespräch mit dem Bundeskanzler, dem Vizekanzler und mir Gelegenheit gehabt, detailliert zu begründen, was er zusätzlich benötigt. Und all das, was der Verteidigungsminister fachlich belegen konnte, wurde ihm auch zugebilligt. Wir haben uns zudem dazu verpflichtet, auf Dauer mindestens zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die äußere Sicherheit bereitzustellen. 

Ist Deutschland darauf vorbereitet, dass die USA nach einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus als Sicherheitsgarant ausfallen könnten? 

Lindner: Ganz gleich, wer im November die Präsidentschaftswahl gewinnt: Wir werden viel größere diplomatische Anstrengungen auf die USA verwenden müssen. Ich finde mich nicht damit ab, dass die transatlantische Partnerschaft schwächer wird. Wir werden auch bei schwierigen Gesprächspartnern alles daransetzen müssen, die USA davon zu überzeugen, dass Engagement in Europa in ihrem eigenen Interesse ist. Im Unterschied zu China und Russland verfügen die USA über Verbündete. Der jüngste Austausch von Gefangenen mit Russland wäre für die USA allein nicht möglich gewesen. Den Wert dieser Verbündeten muss man in Washington immer wieder neu erklären.

Das heißt, es gibt keinen Plan B. 

Lindner: Ich möchte gar keinen Plan B, wo wir die USA als unseren wichtigsten Verbündeten abhaken. 

Brauchen wir neue, weitreichende US-Raketen in Deutschland? Oder vergrößert das die Kriegsgefahr? 

Lindner: Deutschland befindet sich seit Jahren in der Reichweite von nuklear bestückbaren Raketen Russlands. Deshalb ist es für uns von überragender Bedeutung, dass wir ein Gleichgewicht der Abschreckung herstellen. Die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen ist ein wichtiger Beitrag dazu.

Ein anderer Verbündeter – Israel – wird existenziell bedroht. Kommt Deutschland seiner Verantwortung nach? 

Lindner: Ja. Wir haben eine Staatsraison, das Existenzrecht Israels zu verteidigen. Zugleich ist Deutschland traditionell Anhänger einer Zwei-Staaten-Lösung, also eines unabhängigen Staates für das Volk der Palästinenser. Mag das gegenwärtig auch schwer zu realisieren sein, bleibt es unsere Vision einer Friedenslösung. Was Deutschland insbesondere im humanitären Bereich tun kann, um Israel in dieser bedrohlichen Situation zu unterstützen, das tun wir. 

Kann auch die Bundeswehr eine Rolle bei der Abwehr iranischer Angriffe spielen, wenn Israel das wünscht?

Lindner: Es gibt nach meiner Kenntnis keine Anfragen dieser Art.