Dnipro. Vertrieben im eigenen Land: Millionen Ukrainer sind auf der Flucht. Ein Besuch bei alten Menschen im Flüchtlingsheim in der Ostukraine.

Die alte Frau beugt sich auf dem Stuhl langsam nach vorne, bis ihr Kopf fast ihr Knie berührt. Dann sie richtet sich wieder auf und lacht: „Sehen Sie, Gott hat mir viel Energie gegeben.“ Dann wird sie ernst. Natürlich würde sie gern wieder zurück nach Kupjansk, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hat; die Stadt, von der sie dachte, dass sie dort ihre letzte Ruhestätte finden würde. Aber der Krieg hat Valentyna Fedolivna entwurzelt, so wie Millionen andere Ukrainer. Sie können die neuste Episode des Ukraine-Podcast „So fühlt sich Krieg an“ direkt hier im Webplayer hören.

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Jetzt lebt sie in einem Flüchtlingsheim nahe Dnipro. Ob sie jemals wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren kann, ist ungewiss. Sie ist 82 Jahre alt, ein Ende des Krieges in ihrer Heimat ist nicht absehbar. „Gott wird entscheiden, ob ich Kupjansk wiedersehe. Aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin sicher, dass sie mich hier vernünftig nach unseren religiösen Gesetzen beerdigen werden.“

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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat elf Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht, das ist etwa ein Viertel der Bevölkerung. Als vor zwei Jahren die ersten Bomben und Raketen in den Städten im Norden, Osten und Süden der Ukraine explodieren, fliehen viele Menschen in die Region Dnipropetrowsk. Für die meisten ist es nur eine Station auf dem Weg Richtung Westen, in sicherere ukrainische Städte oder ins Ausland. Etwa 500.000 bleiben in der Region. In Khascheve, einem Dorf nahe der Millionenstadt Dnipro, haben einige von ihnen Obdach gefunden.

Am Ausgang des Dorfes steht ein Gebäudeensemble. Graue, triste, zweigeschossige Wohnblöcke, an denen der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hat. Bis vor einem Jahrzehnt wurden hier schwer erziehbare Jugendliche betreut, dann verfiel die Einrichtung. Als vor zwei Jahren die große Fluchtwelle anbrandet, richten freiwillige Helfer wie Serhii Holikov eines der Gebäude zu einem provisorischen Refugium für Hilfesuchende her. „Wir haben 400 Flüchtlinge aufgenommen und versorgt“, erzählt Holikov. Er ist der Leiter des Flüchtlingsheims, dem sie den Namen „Harmonie“ gegeben haben. Die Menschen, die damals kommen, sind schockiert und traumatisiert, haben Bombennächte in Kellern und Bunkern verbracht. „Viele waren nicht einmal in der Lage zu reden.“

Wie Flüchtlingslager „Harmonie“ alten Menschen ein neues Zuhause bietet

Der Name des Heims steht auf einem Banner über dem Eingang des Gebäudes. Drinnen riecht es nach Essen und Farbe, die Wände sind rosa gestrichen. Im Eingangsbereich stapeln sich Tüten mit Lebensmitteln, die sind für ein Dorf in der Nähe gedacht. Heute leben in der „Harmonie“ 80 Flüchtlinge. Viele von ihnen sind betagt, die Hälfte ist über 65 Jahre alt.

Es sind Menschen wie Valentyna Fedolivna aus Kupjansk, deren Heimatstadt an der Front liegt und die in diesen Tagen von den russischen Streitkräften heftig attackiert wird. Oder Menschen wie Vira Adonina und Valentyna Udovenko. Die beiden teilen sich ein kleines Zimmer im Erdgeschoss. Sie sind aus Bachmut geflohen. Anders als Kupjansk existiert ihre Heimatstadt nicht mehr. Sie ist ausradiert worden.

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Das Zimmer, in dem die beiden alten Frauen leben, ist bescheiden eingerichtet. Zwei Betten, ein Schrank, ein kleiner Tisch, auf dem eine verschlissene Bibel liegt. „Unser Leben in Bachmut war schön. Es war keine große Stadt, aber wir haben dort gut gelebt. Es gab so viele Blumen, vor allem Rosen, wir hatten auch unsere Kirche. Jetzt ist alles zerstört“, erzählt Vira Adonina. Sie ist eine Frau, die selbst in dem blauen Bademantel, den sie trägt, würdevoll wirkt. Sie klagt nicht. Adonina ist 82.

In dem Flüchtlingsheim „Harmonie“ leben etwa 80 Ukrainer. Viele von ihnen sind älter al 65 Jahr.
In dem Flüchtlingsheim „Harmonie“ leben etwa 80 Ukrainer. Viele von ihnen sind älter al 65 Jahr. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Sie sagt, sie hoffe, dass Bachmut irgendwann wieder aus den Ruinen aufersteht und für die früheren Bewohner zugänglich sein wird. „Aber das wird vielleicht nicht mehr in meinem Leben sein.“ Sie lächelt kokett: „Ich bin ja nicht mehr allzu jung.“

Der Krieg hat Vira Adonina alles genommen, auch ihren Sohn, der sie überredete, die Stadt zu verlassen und der bei der Verteidigung Bachmuts starb. Gebrochen hat sie ihr Schicksal aber nicht. „Der Mensch weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Nur Gott weiß, was sein wird.“ Der Glaube gibt ihr Kraft, auch die Kraft, sich um ihre Freundin zu kümmern, die drei Jahre jünger ist als sie. Manchmal nimmt sie Valentyna Udovenko schützend und tröstend in den Arm.

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Nach der Flucht: „Ich lebe doch so gern“

Ihrer Freundin sind der erlittene Schrecken und der Schmerz über den Verlust ihres alten Lebens noch deutlich anzumerken. Sie bricht in Tränen aus, als sie an Bachmut denkt, an die sauberen, schönen Bürgersteige, die Trolleys, die Blumen. Sie hatte eine schöne Wohnung im fünften Stock eines Appartementhauses. Der Wohnblock existiert nicht mehr. Bevor er wie quasi alle Gebäude in Bachmut zerbombt wurde, ist Udovenko aus der umkämpften Stadt dank der Hilfe von Freiwilligen herausgekommen. „Ich habe die Explosionen gehört. Ich bin ja alt, und ich habe mich gefürchtet. Ich lebe doch so gern.“

Die Freundinnen Vira Adonina und Valentyna Udovenko. Sie teilen sich ein Zimmer im Heim.
Die Freundinnen Vira Adonina und Valentyna Udovenko. Sie teilen sich ein Zimmer im Heim. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Die beiden Frauen leben seit August 2022 in dem Flüchtlingsheim, das vielleicht die letzte Station ihres Lebens sein wird. „Es ist sehr gut, hier zu sein“, sagt Vira Adonina. „Dieser Ort ist so ruhig. Wir hören keine Explosionen. Natürlich wissen wir aus den Nachrichten, was um uns herum los ist. Aber wir hören keine Kriegsgeräusche.“ Sie versuchen sich zu beschäftigen. „Wir hassen es, nichts zu tun“, sagt ihre Freundin. Also fegen sie den Hof, putzen die Toiletten oder arbeiten im Garten.

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Sie haben sich in ihrem neuen Leben eingerichtet, auch dank der Hilfe verschiedener lokaler und internationaler Organisationen. „Am Anfang war es sehr schwierig, besonders für die alten Menschen“, erzählt Natalia Kravchenko. Sie arbeitet als Psychologin für die deutsche Hilfsorganisation „Handicap International“. Als die Flüchtlinge ankamen, seien sie verzweifelt gewesen. „Sie vermissten ihr Zuhause, waren verängstigt und mussten sich an diese Situation gewöhnen. Viele hatten große Probleme zu schlafen.“

Psychologen unterstützen ukrainische Flüchtlinge im eigenen Land

Kravchenko und die anderen Helfer unterstützen die Flüchtlinge mit Gesprächs- und Beschäftigungstherapien. „Wir bieten ihnen Bewältigungsstrategien an, um sich selbst zu stabilisieren“, berichtet die Psychologin. Reden sei enorm wichtig. „Wir bringen ihnen bei, ihre Emotionen zu benennen. Gerade alte Menschen tun sich damit schwer, zu beschreiben, wie sich zu fühlen. Aber es ist wichtig, die Gefühle auszudrücken. Das lindert den Schmerz.“

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Die alten Menschen sind dankbar für die Hilfe. „Energetische junge Menschen“ seien das, sagt Vira Adonina, das gebe ihnen Kraft. Valentyna Fedolivna, die aus Kupjansk nach Khascheve gekommen ist, sagt: „Es ist wichtig für mich, mit anderen Menschen zu sprechen. So nehme ich meine Gedanken nicht mit ins Grab.“

Seit die Flüchtlinge gekommen sind, sind bereits acht alte Menschen in der „Harmonie“ gestorben, berichtet Heimleiter Serhii Holikov. Er und die anderen Helfer richten gerade ein zweites Haus auf dem Gelände her. Die Russen stoßen derzeit an allen Frontabschnitten vor. Sie erwarten noch mehr Flüchtlinge in Khascheve.

Reporter Jan Jessen ist zu Besuch im Flüchtlingsheim in der Ostukraine.
Reporter Jan Jessen ist zu Besuch im Flüchtlingsheim in der Ostukraine. © FUNKE Foto Services | André Hirtz