Donezk. Etwa 600 russische Gefallene hat Oleksij Yukow in der Ukraine geborgen – ein Akt der Menschlichkeit. Doch oft erfährt er Unverständnis.
In einer kleinen, in die weite Steppenlandschaft geduckten Siedlung im Norden der Region Donezk hält ein weißer Kühllastwagen. Die Männer öffnen die Türen. Im Wageninnern stapeln sich schwarze Plastiksäcke. Sie zerren einen Sack nach dem nächsten heraus, legen die Säcke in einer Reihe nebeneinander auf den harten Boden, bis es zehn sind. Mehr geht heute nicht, die Leichenhallen sind überfüllt. Einer der Männer zieht die Reißverschlüsse der Säcke auf. Oleksij Yukow betrachtet die Überreste der Männer, die für Russland in den Krieg gegen seine Heimat gezogen sind. Er zieht sich schwarze Handschuhe an. Dann macht er sich an die Arbeit.
In den Nächten zuvor waren Yukow und seine Mitstreiter von „Advis Plazdarm“ in der Umgebung von Klischtschijiwka unterwegs, einem Dorf nicht weit von Bachmut entfernt – jener Stadt, um die eine der bisher heftigsten Schlachten des Krieges in der Ukraine tobte. Im Mai nahmen die Russen Bachmut ein. Im September konnten ukrainische Truppen Klischtschijiwka wieder befreien. Die Gegend dort ist mit Toten übersät. Die ukrainischen Freiwilligen um Yukow haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Leichen zu bergen, damit sie vernünftig bestattet werden können. „Menschen müssen ihre Verwandten beerdigen können, damit die Seelen nicht zwischen den Welten gefangen sind“, sagt Yukow. „Wir dürfen unsere Menschlichkeit nicht aufgeben.“
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Die Männer, deren Überreste unter dem grauen, weiten Himmel auf dem schwarzen Plastik liegen, waren ausnahmslos russische Soldaten. Sie sind schon länger tot. Ihre Verwesung ist weit fortgeschritten, sie sind vermutlich in den Kämpfen im vergangenen Winter gefallen, schätzt Yukow. Er ist Mitte dreißig, trägt Flecktarn, einen Helm und eine Spritzschutzbrille.
Er kniet sich neben die erste Leiche, öffnet die verklebte Uniformjacke, tastet sie routiniert ab. Yukow sucht nach Dokumenten, Erkennungsmarken oder irgendetwas anderem, das helfen könnte, den Mann zu identifizieren. „Manche haben sich kleine Schilder mit der Telefonnummer ihrer Mutter in die Kleidung genäht“, sagt er. Je schneller die Toten Namen haben, desto schneller können sie nach Hause.
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Leichensammler Oleksij Yukow: „Ich will Mensch bleiben“
Der russische Überfall auf die Ukraine hat bereits Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Menschenleben gefordert. Der Kreml nimmt keine Rücksicht auf Verluste. Allein auf russischer Seite registrierte die unabhängige Plattform Mediazona zum Stand 1. Dezember 38.261 Gefallene. Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen, schätzen die Betreiber, die für ihre Erhebungen öffentlich zugängliche Quellen auswerten. Westliche Behörden gehen von bis zu 120.000 toten russischen Soldaten aus. Auf ukrainischer Seite sollen bislang bis zu 70.000 Soldaten gestorben sein, gesicherte Informationen gibt es auch dazu nicht.
Und aktuell steigt die Zahl der russischen Gefallenen wieder schneller: In der Schlacht um Awdijiwka sollen jeden Tag Hunderte Soldaten umkommen. Bis Ende November haben allein Oleksij Yukow und seine Männer rund 1500 Tote geborgen. 600 von ihnen waren russische Soldaten, 200 ukrainische. Die anderen waren tote Zivilisten. Die Leichensammler unterscheiden nicht zwischen Russen und Ukrainern. „Wir kämpfen nicht mit den Toten, wir respektieren sie. Ich will Mensch bleiben, auch wenn uns die töten, die in unser Land gekommen sind“, sagt Yukow. Für seine Mission begibt er sich selbst in Lebensgefahr.
Bei Klischtschijiwka wird derzeit gekämpft. Manchmal lassen die Russen sie in Ruhe ihre Arbeit machen, dann drehen die Drohnen ab. Manchmal eröffnen sie aber auch die Jagd auf die Leichensammler. „Wir waren häufig unter Beschuss, es sind eben unterschiedliche Kommandeure an der Front. Auf das Wort russischer Offiziere kann man sich nicht immer verlassen“, sagt Yukow und lächelt bitter. Oft arbeiten sie nachts, im Schutz der Dunkelheit ist es sicherer.
Gefallene Soldaten: Überreste legen grausigen Tod nahe
Bei Klischtschijiwka haben sie schon viele russische Tote gefunden. In einem kleinen Waldstück, vielleicht vierzig Meter lang und nur wenige Meter breit, waren es über sechzig. Dass die Russen ihre Gefallenen zurücklassen, will Yukow nicht verurteilen. „Wenn man sich zurückzieht, nimmt man die Verletzten mit, nicht die Gefallenen. Auch wir können nicht immer unsere Toten mitnehmen.“
Der erste Gefallene hat keine Dokumente dabei, nichts, womit er identifiziert werden könnte. „Das ist jetzt die Aufgabe der Forensiker“, sagt Yukow, der an seinem Helm eine Kamera installiert hat, mit der er seine Arbeit aufnimmt. Seine Männer und er dokumentieren alles, auch um zu verhindern, dass die Russen behaupten, sie gäben ukrainische Gefallene als russische aus. Yukow wendet sich dem nächsten Toten zu, kniet sich wieder neben die Überreste, durchsucht ihn, sortiert die zersplitterten Knochen.
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Woran die Männer gestorben sind, kann er nicht genau sagen, dazu sind die Leichen zu verwest. Aber man kann an ihnen die fürchterliche Wirkung von explodierenden Geschossen erkennen. Einem der Toten fehlt der Kopf. Wo er war, klafft ein großes Loch in der Kapuze. Einen anderen schälen sie aus dem nassen Schlafsack heraus, in dem er gestorben ist. Von einem anderen ist nur ein Bein übriggeblieben. „Das war ein Volltreffer“, sagt Yukow lakonisch.
Wagner-Söldner: Mit Turnschuhen in den Kampf geschickt
Bei einigen der Toten findet er persönliche Habseligkeiten. Kleine Ikonen, auf der die Jungfrau Maria oder der Heilige Sankt Georg zu sehen sind. Silberne Kreuze. Die Glücksbringer konnten diese Männer genauso wenig vor dem elendigen Tod retten wie die Gummibänder, mit denen manche von ihnen versucht haben, ihre Blutungen zu stoppen. Sie sind noch immer um Beine oder Arme geschnürt. Manche der Männer waren Söldner der Wagner-Truppe. Bei drei von ihnen findet Yukow die entsprechenden Erkennungsmarken. Es sind Männer, die mit Turnschuhen und Gummistiefeln in den Einsatz geschickt wurden.
Einige der Toten haben Namen. Das sind die, bei denen Yukow Papiere findet, Militärausweise oder Pässe. Manche der Dokumente sind – in Folien verpackt – sehr gut erhalten. Alexei, Jahrgang 1979, stammte aus der Region Nowgorod im Nordwesten Russlands und hat ausweislich seiner Papiere bereits in Tschetschenien gekämpft. Ein anderer Alexei, Jahrgang 1978, ist aus Mordwninien im Südwesten Russlands in die Ukraine gekommen. Viktor, Jahrgang 1977, stammt aus einem kleinen Dorf in Tschuwaschien. Yukow bittet darum, die vollständigen Namen der Männer nicht zu nennen. Erst sollen die Angehörigen informiert werden.
Wenn die Überreste der Toten in die Leichenhalle gebracht wurden und endgültig klar ist, wer die Männer waren, erstellen die ukrainischen Militärs Listen mit ihren Namen. Die Russen erstellen ihrerseits Listen mit den Namen ukrainischer Gefallenen. Dann werden die Toten ausgetauscht. Oleksij Yukow sagt, in der ukrainischen Gesellschaft werde ihre Arbeit unterschiedlich bewertet. „Die, die den Krieg erlebt haben, ihn gespürt haben, die behandeln uns mit Respekt. Die anderen verstehen nicht, was wir machen.“ Er weiß, sie werden noch lange arbeiten müssen. „Aber der Krieg wird nicht vorbei sein, wenn wir den letzten Soldaten beerdigt haben. Er wird vorbei sein, wenn wir wieder Menschen werden.“
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