Essen.. Die Ukraine muss wieder aufgebaut werden, irgendwann. Wie schlimm die Zerstörung ist, zeigt das Beispiel einer Kleinstadt nahe Charkiw.
Am Stadtrand von Isjum steht in der Nähe der „Brücke der Liebenden“ die Ruine eines Wohnblocks. Es sieht aus, als sei eine gewaltige Axt in das Haus gefahren und habe es in zwei Hälften gespalten. Am 9. März 2022 starben im Keller des Gebäudes 54 Menschen, als eine russische Rakete einschlug.
80 Prozent der mehrgeschossigen Wohnhäuser in Isjum hat der Krieg zerstört, sagt Volodmyr Matsokin, der stellvertretende Bürgermeister der Kleinstadt, die 125 Kilometer südöstlich von Charkiw liegt. Isjum zeigt exemplarisch, vor welchen gewaltigen Herausforderungen das Land nach dem Ende des Krieges stehen wird. Der Wiederaufbau des Landes wird eine Mammutaufgabe sein. „Ich sage nicht, dass wir sie nicht lösen werden. Das werden wir, aber ohne die Hilfe unserer internationalen Geber und Partner wird es viel länger dauern“, betont Matsokin unserer Redaktion.
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Er hofft wie viele andere Ukrainer auf einen Ausbau der internationalen Unterstützung und auf eine Konferenz, zu der Deutschland ab Dienstag einlädt. Auf der „Ukraine Recovery Conference“ beraten Regierungsvertreter, Hilfsorganisationen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft über den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes, über Nothilfen, Projekte und die Frage, wie Unternehmen dazu bewegt werden können, in das Land zu investieren. Neben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird zur Eröffnung auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet.
Isjum: Die Front ist nah, und es gibt keine Jobs mehr
Isjum im Nordosten der Ukraine wird Ende März 2022 von den russischen Streitkräften besetzt. Nur etwa ein Drittel der ursprünglich 44.000 Einwohner bleibt in der Stadt. Die Besatzer nutzen die Stadt als einen wichtigen Militärstützpunkt. Als die ukrainischen Streitkräfte Isjum im September 2022 befreien, finden sie in einem Wald am Stadteingang ein Gräberfeld. Hunderte Menschen sind in der lehmigen Erde verscharrt worden. Manche der Toten haben gefesselte Hände. Die Kleinstadt gleicht einer Ruinenlandschaft. Häuser, Straßen, Verwaltungsgebäude sind beschädigt oder zerstört. Die Toten werden würdevoll bestattet. Das Aufräumen beginnt.
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Eineinhalb Jahre später leben wieder rund 27.000 Menschen in Isjum. Noch immer, sagt der stellvertretende Bürgermeister, sind nicht ansatzweise alle Schäden beseitigt. Nur zwei der neun Schulen können genutzt werden. Viele Straßen sind noch immer zerstört, die Wärmeversorgung ist mangelhaft. Immerhin seien die Wasserversorgung und die Abwassersysteme mit internationaler Hilfe wiederhergestellt worden, so Volodymyr Matsokin. Der Strom fließt wieder, viele private Häuser sind notdürftig geflickt worden. Aber die Front ist nah, und weil praktisch alle Unternehmen in der Stadt nicht mehr existieren, gibt es keine Jobs. Ein Grund, weshalb viele der Rückkehrer auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Von der Konferenz in Berlin erhofft sich Matsokin Hilfe beim Wiederaufbau des Wohnraums, insbesondere der großen, mehrstöckigen Gebäude. Damit deren frühere Bewohner Finanzhilfen für die Reparaturen ihrer Wohnungen bekommen könnten, müssten die Wohnblocks selbst erst wieder restauriert werden. „Das ist sehr aufwendig und teuer.“ Auch bei der Wiederherrichtung der kommunalen Infrastruktur sei Isjum auf Hilfe angewiesen: „Dazu gehören unsere Schulen, Kindergärten, Kultur- und Sporteinrichtungen, denn alles, was ich hier aufzähle, ist zerstört.“
„Sie greifen mit allem an. Mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen, Mörsern und Drohnen“
Im Süden der Ukraine kämpft Oleksandr Prokudin mit noch heftigeren Problemen. Er ist der Leiter der Militärverwaltung der Region Cherson, quasi eine Art Kriegsgouverneur. Einen großen Teil der Region haben Putins Streitkräften besetzt. Im November 2022 ziehen sich die Russen aus Cherson zurück, der Stadt, die der Region ihren Namen gegeben hat und die ihr Hauptverwaltungssitz ist. Seitdem beschießen die russischen Streitkräfte die Stadt täglich von der anderen Seite des Flusses Dnepr und nehmen auch die umliegenden Siedlungen unter Feuer. „Die Besatzer machen die Siedlungen in der Region vorsätzlich dem Erdboden gleich“, klagt Prokudin gegenüber unserer Redaktion.
Allein im Mai hätten die Russen mehr als 26.000 Granaten auf die Region abgefeuert. „Sie greifen mit allem an. Mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen, Mörsern und Drohnen.“ Fast 29.000 zivile Objekte seien in der Region Cherson beschädigt oder zerstört worden, darunter 26.000 Privathäuser und 1150 Wohnblöcke. „Was die Menschen über viele Jahre hinweg aufgebaut und genutzt hatten, wurde im Handumdrehen zu Ruinen“, so Prokudin. Zudem greife das russische Militär weiter rücksichtslos Bildungs-, Sport- und Krankenhauseinrichtungen an. „Russische Granaten haben 144 Schulen, 110 Kindergärten, 166 Krankenhäuser, 114 Verwaltungsgebäude und andere nichtmilitärische Einrichtungen getroffen.“
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Allerdings gingen trotz des schweren Beschusses die Wiederaufbauarbeiten weiter, betont Prokudin. Mehr als 3600 beschädigte Gebäude seien bereits repariert worden, etwa ein Drittel davon im Rahmen des Präsidentenprogramms „Seite an Seite“, ein weiteres Drittel durch die Arbeit von Hilfsorganisationen, die anderen in Eigenregie oder auf Kosten der staatlichen oder lokalen Haushalte. Über 3000 Familien, deren Häuser beschädigt worden seien, hätten von der Regierung bereits eine Entschädigung von insgesamt 515 Millionen Hrywna erhalten, umgerechnet sind das pro Familie etwa 400 Euro. Hunderte andere Familien hätten Gutscheine erhalten, mit denen sie neue Wohnungen erwerben könnten.
Wiederaufbau: Die Weltbank schätzt die Kosten auf 452 Milliarden Euro
Wie hoch die Schäden in der Region Cherson insgesamt sind, ist unklar. „Zunächst müssen wir eine detaillierte Analyse und Erhebung durchführen, was erst nach dem Ende der Feindseligkeiten möglich ist“, sagt Prokudin. Der Gouverneur hat ähnliche Erwartungen an die Berliner Konferenz wie der Vizebürgermeister von Isjum. Er hoffe auf Lösungen, die „der Region Cherson helfen werden, sich zu erholen“. In erster Linie gehe es um die Unterstützung bei der Instandsetzung von sozialen Einrichtungen, kritischer Infrastruktur und Wohnhäusern.
Prokudin hat auch eine ganz konkrete Forderung: „Wir erwarten auch Unterstützung für unser Projekt zum Bau einer Bauschutt-Recyclinganlage in Cherson. Dies ist äußerst wichtig und notwendig für die Stadt.“ Mit einer solchen Anlage könnte der nach den russischen Angriffen angefallene Schutt zu neuen Baumaterialien recycelt werden. „Die können wir dann später für den Wiederaufbau beschädigter Gebäude verwenden.“
Landesweit sind in der Ukraine bislang rund eine Viertelmillion Wohngebäude zerstört oder beschädigt worden, schätzt die Kiewer Hochschule für Wirtschaft (KES). Dazu rund 3800 Bildungseinrichtungen, etwa 580 Verwaltungsgebäude und fast 430 Krankenhäuser. Die zahllosen russischen Angriffe auf die kritische Infrastruktur des Landes, die in den vergangenen Wochen wieder deutlich zugenommen haben, haben Kraftwerke, Umspannwerke, Hochspannungsleitungen, Dämme getroffen.
Die Weltbank beziffert die Gesamtkosten für den Wiederaufbau des Landes bereits jetzt auf eine Summe von rund 452 Milliarden Euro. Und es ist noch kein Ende des Krieges in Sicht.