Odessa/Orichiw. Kiew braucht mehr Soldaten, Soldaten wie Wolodymyr. Eigentlich repariert er Traktoren. Bei Robotyne muss er an die Front. Und kämpft.

Der junge Mann sitzt zusammengesunken im Sessel, seine Kieferknochen mahlen, er windet sich. Sergej schämt sich, das gibt er offen zu. Er hat einen weiß-grauen Kapuzenpulli an und eine dunkle Jogginghose, aber eigentlich müsste er eine olivgrüne Uniform tragen. Sergej ist einberufen worden. Er weiß, er wird gebraucht, um sein Land zu verteidigen. Aber er ist nicht zu dem Rekrutierungsbüro gegangen, zu dem er einbestellt worden ist, weil er sich vor dem fürchtet, was ihn in der ukrainischen Armeeund an der Front erwarten könnte. „Ich fühle mich nicht gut dabei. Aber ich kann nicht.“

Zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion wird die militärische Lage für die Ukraine schwieriger. An den Fronten im Osten und Süden drücken die russischen Streitkräfte an allen Abschnitten, sie haben mehr Munition, mehr Soldaten als die ukrainischen Verteidiger. Der Blutzoll auf beiden Seiten ist gewaltig. „Uns gehen die Männer schneller aus als die Zigaretten“, sagt ein ukrainischer Artillerie-Offizier, der bei Awdijiwka in der Region Donezk eingesetzt ist. Viele der Soldaten, die sich am Anfang des Überfalls freiwillig zum Kampfeinsatz gemeldet haben, sind tot oder kampfunfähig. Die anderen sind nach zwei Jahren in den Schützengräben völlig erschöpft.

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Die ukrainische Gesellschaft ringt im zweiten Kriegswinter auch mit sich selbst. Ohne neue Soldaten wird es nicht gelingen, die russischen Truppen aufzuhalten. Eine Million Ukrainer tragen bereits Uniform, bei der Armee, den Grenztruppen, den Territorialen Verteidigungskräften oder bei der Polizei. Bis zu 500.000 sollen zusätzlich mobilisiert werden. Aber kann man Menschen gegen ihren Willen zum Dienst an der Waffe zwingen? Verrät das nicht die Werte, für die man kämpft? In den sozialen Medien kursieren Videos von Rekrutierungsoffizieren, die Männer in Fahrzeuge drängen, um sie zu Rekrutierungsbüros zu bringen. Das sorgt für Empörung und heftige Diskussionen.

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Mobilisierung im der Ukraine: Dramatische Szenen in sozialen Medien

Odessa am Schwarzen Meer. Die Hafenstadt mit ihrem mediterranen Flair, in der das Leben immer unbeschwerter scheint als andernorts in der Ukraine, ist häufig das Ziel massiver russischer Luftangriffe. Trotzdem versuchen die Menschen, den Krieg zu verdrängen. In der Deribasovskaya-Straße im Herzen der Stadt sind die Restaurants an diesem Samstagabend gut gefüllt, aus den Bars dringt Musik und Gelächter. In einem Hotel treffen wir Sergej, Mitte dreißig, schlaksige Figur. Sergej ist nicht der richtige Name des jungen Mannes. Er erzählt uns von seinem Gewissenskonflikt.

Ihor will nicht als Soldat kämpfen und versteckt sich vor den Behörden. Im Gespräch mit Jan Jessen (r.) erklärt er, was er fürchtet.
Ihor will nicht als Soldat kämpfen und versteckt sich vor den Behörden. Im Gespräch mit Jan Jessen (r.) erklärt er, was er fürchtet. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Noch im Frühjahr vergangenen Jahres überlegt Sergej, sich freiwillig zur Armee zu melden. Es ist die Zeit nach dem Winter, als die Russen Odessa und viele andere ukrainische Städte in Kälte und Dunkelheit bombten. „Ich war sehr wütend und hatte große Hoffnungen auf die Gegenoffensive“, erzählt er. Aber er schiebt die Entscheidung auf. Die Gegenoffensive scheitert. Ein Freund zeigt ihm ein Video eines russischen Propagandakanals, in dem zwei ukrainische Kriegsgefangene berichten, sie seien die einzigen Überlebenden ihrer Kompanie, und in dem ein Schlachtfeld zu sehen ist, das mit den Leichen ukrainischer Soldaten übersät ist. „Das hat etwas mit mir gemacht.“

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Ukraine-Krieg: Sergej versteckt sich – sein Gewissen plagt ihn aber

Anfang Oktober läuft Sergej einer Gruppe von Rekrutierungsoffizieren in die Arme, als er von der Arbeit kommt. Es sind Männer, die jetzt häufig in den Straßen unterwegs sind, manchmal stoppen sie Busse oder Straßenbahnen auf der Suche nach Wehrpflichtigen. Sie kontrollieren seinen Ausweis, stellen ihm ein Papier aus, das ihn verpflichtet, sich tags darauf im nächsten Rekrutierungsbüro zur ärztlichen Untersuchung zu melden. Er hat gehört, dass es von dort häufig direkt ins nächste Trainingscamp geht. „Ich hatte eine schlaflose Nacht.“ Am nächsten Tag geht er nicht zu dem Büro.

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Die nächsten Wochen sind nervenaufreibend für den jungen Mann. Er vermeidet es zweieinhalb Monate, nach Hause zu gehen, aus Furcht, die Soldaten könnten auf ihn warten. Jetzt versucht er, möglichst wenig auf den Straßen unterwegs zu sein. Dass er sich nicht wie angeordnet gemeldet hat, ist noch eine Art Ordnungswidrigkeit. Wenn sie ihn noch einmal zu sich beordern, und er nicht kommt, könnte es unangenehm für ihn werden, befürchtet er. Ihn plagt sein Gewissen. An der Front sterben Soldaten für seine Freiheit. „Ich weiß, ich müsste eigentlich zur Armee gehen. Das beschäftigt mich jeden Tag.“

Soldaten in der Ukraine: Mehr Promis und Reiche zum Wehrdienst?

Eine Woche später sind wir in Orichiw, rund vierhundert Kilometer östlich von Odessa. In der Stadt sind die meisten Gebäude Ruinen, hier leben kaum noch Zivilisten. Die Front ist nicht weit entfernt. In einem Dorf in der Umgebung haben Soldaten der 65. Brigade in verlassenen Häusern Ruhepositionen bezogen. Einige von ihnen kämpfen schon seit Beginn des Überfalls vor zwei Jahren. Sie sind erfahren und haben viele Gefechte überlebt. In den vergangenen Wochen stemmen sie sich gegen den russischen Ansturm bei Robotyne. Es ist ein blutiges Gemetzel.

Vitaly, Oleksandr und Oleh sind Soldaten einer Infanterie-Einheit der 65. Brigade.
Vitaly, Oleksandr und Oleh sind Soldaten einer Infanterie-Einheit der 65. Brigade. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

„Wir sind müde, es sind nur noch wenige von denen da, die von Anfang an dabei sind“, sagt Ihor, 36, der früher sein Geld als Bauarbeiter verdient hat. „Die Leute müssen verstehen, dass es an der Zeit ist, für ihr Land zu kämpfen.“ Den Männern ist aber auch klar: Wer zum Dienst an der Waffe gezwungen wird, wird auf dem Schlachtfeld möglicherweise nicht verlässlich sein. „So einem Menschen kannst du nicht vertrauen. Das ist gefährlich“, sagt Oleh, 35. Vielleicht, überlegt Vitaly, 32, früher Mechaniker auf einem Bauernhof, sollten sich mehr Prominente und Reiche zum Armeedienst melden. Musiker, Sportler, Politiker. „Das wäre motivierend und gerechter.“

Ukraine: Wolodymyr stirbt bei Robotyne – „Er hat tapfer gekämpft“

Im Nachbarhaus ist vor drei Tagen ein Dutzend Männer eingezogen. Es sind neue Rekruten. Die Waffen, mit denen sie ausgerüstet sind, sind alte Kalaschnikows. Die Männer wirken angespannt und unsicher, sie versuchen es mit Lachen zu überspielen. Manche sehen aus, als könnten sie schon Großväter sein, das Leben hat tiefe Furchen in ihre Gesichter gezogen. „Ich weiß nicht viel über die Situation hier“, erzählt Wolodymyr Kravchenko. Er ist ein einfacher Mann mit großen Händen, Traktorist aus einem Dorf in der Zentralukraine, verheiratet, er hat zwei erwachsene Kinder. Wie fast alle hier ist er älter, 49 Jahre. Das Durchschnittsalter der Brigade liegt bei 47.

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Als er einberufen wird, erzählt Wolodymyr, sei er ganz ruhig gewesen. „Ich habe schon 2015 im Donbass gekämpft, ich erfülle meine Pflicht.“ Auch für seine Frau sei es in Ordnung, dass er wieder in der Armee sei. Die anderen Neuen habe alle keine Kampferfahrung. Jetzt werden sie nach 35 Tagen Training an die Front geschickt. „Natürlich habe ich Angst, das ist doch ganz normal.“ Aber wenn es körperlich nicht zu anstrengend werde, dann sei er bereit. „Wir haben doch keine Wahl.“ Drei Tage später ist Wolodomyr Kravchenko tot, gefallen an der Front bei Robotyne. Mit anderen Soldaten hat er versucht, zwei russische Panzer und zwei Truppentransporter aufzuhalten. Der Presseoffizier der Brigade sagt: „Er hat tapfer gekämpft.“