Siegen. In Deutschland fehlt Pflegepersonal, nun werden in Siegen junge Leute aus Vietnam ausgebildet. Nach dem ersten Jahr gibt es eindeutige Tendenzen.
Eine Gruppe junger Menschen. Ein völlig fremdes Land, eine unbekannte Sprache. Und dennoch hat niemand von den 23 Vietnamesinnen und Vietnamesen aus dem ersten Kurs der Internationalen Pflegeschule (IPS) in Siegen bisher das Handtuch geworfen. „Ihre Haltung ist, dass sie dauerhaft hier bleiben wollen“, berichtet Udo Hüther, Integrationsbegleiter beim Kreis Siegen-Wittgenstein. Das Gemeinschaftsprojekt des Kreises und des Bildungsinstituts für Gesundheitsberufe Südwestfalen (Bigs) soll den Pflegekräftemangel in der Region mildern helfen. Bisher deutet alles darauf hin, dass es sich als Erfolgsmodell langfristig etablieren wird.
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„Wir haben ein nationales Problem, dass wir nur noch international lösen können“, erklärt Projektleiter Reiner Jakobs. Die IPS ist im Bigs am Wellersberg in Siegen angesiedelt. Sie zielt darauf ab, den Pflegenotstand in Deutschland mit Arbeitskräften aus dem Ausland zu beseitigen, dabei aber bekannte Fehler solcher Ansätze von Anfang an zu vermeiden. Bislang sei es meist üblich gewesen, dass westliche Staaten fertig ausgebildete Fachkräfte aus anderen Ländern abwerben. „Das allein hilft uns aber nicht“, betont Reiner Jakobs. Deutschland steht in Rankings, die die Zufriedenheit solcher Zuwanderinnen und Zuwanderer abbilden, nämlich regelmäßig mies da. Viele wollen wieder weg, weil sie sich schlecht zurechtfinden, kaum Anschluss bekommen oder bei ihren Bemühungen um Integration wenig Unterstützung von der Gesellschaft erfahren. Die IPS folgt deshalb einer gänzlich anderen Linie. „Wir müssen die Leute so zu uns holen, dass sie sich hier von Anfang an wohlfühlen“, erklärt Reiner Jakobs. Das Angebot geht ergo über das rein Fachliche hinaus, „damit die jungen Leute nicht auf sich selbst gestellt sind, sobald sie aus der Klinik rausgehen“.
Siegen: Junge Vietnamesen werden an der Internationalen Pflegeschule zu Fachkräften ausgebildet
Eine grundlegende Prämisse war, „keinen Volkswirtschaften Leute zu entziehen, die auf diese Leute angewiesen sind“, hebt der Projektleiter hervor. In Vietnam ist der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung sehr hoch, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind mäßig, die Löhne niedrig und Deutschland „gilt dort bei vielen als ein tolles Land“, sagt Reiner Jakobs. Definitiv hat die IPS aber nichts, wirklich gar nichts mit Entwicklungshilfe zu tun, wie alle Verantwortlichen betonen. Es sei keineswegs so, dass – überspitzt formuliert – jungen Vietnamesinnen und Vietnamesen großherzig die Möglichkeit eröffnet wird, in Deutschland ein ökonomisch besseres Leben zu führen; sondern so, dass umgekehrt Deutschland auf diese Arbeitskräfte angewiesen ist. „Win-Win-Situation“ ist also der treffendere Begriff. Es geht um Augenhöhe: Beide Seiten wollen etwas – und beide Seiten kriegen es, wenn sie aufeinander zugehen.
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Auf der berufsfachlichen Seite ist die IPS so organisiert, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst die einjährige Pflegeassistenzausbildung durchlaufen und währenddessen in zusätzlichem Unterricht Deutsch lernen. Mittlerweile haben alle 23 Schülerinnen und Schüler des ersten Kurses diesen Schritt hinter sich, 16 haben im ersten Anlauf bestanden. Bei denen, die beim ersten Versuch durchfielen, „war es kein intellektuelles Problem“, wie Reiner Jakobs unterstreicht. „Fachlich sind alle gut. Es lag an der Sprachbarriere.“ Dass die meisten schon im ersten Durchgang die zwei Klausuren und die mündliche Prüfung mit Praxisteilen erfolgreich absolvierten, „ist schon eine Leistung“, merkt IPS-Leiter Uwe Mayenschein an und ergänzt: „Ich wüsste nicht, ob ich das in Vietnam nach nur einem Jahr könnte.“ Die kulturelle Prägung spielt dabei eine Rolle, wie Koordinatorin Alexandra Schneider-Joppich vom Bigs anmerkt. „Bildung hat in Vietnam einen sehr hohen Stellenwert. Und das Verhältnis zur Arbeit ist oft ein anderes.“ Das zeigt sich auch darin, dass die Abbrecherquote im IPS-Kurs bisher bei null liegt, in der Pflegeausbildung in Deutschland aber insgesamt bei etwas mehr als 20 Prozent.
Siegen: Internationale Pflegeschule füllt den Begriff „Willkommenskultur“ mit echtem Leben
Inzwischen befinden sich alle Leute aus dem Startjahrgang in der dreijährigen Pflegefachausbildung. Überwiegend leben sie in Wohngemeinschaften, verbringen natürlich viel Zeit miteinander, erhalten aber auch viele Anregungen und Unterstützung innerhalb des Projekts. „Wir brauchen eine wirkliche Willkommenkultur“, sagt Udo Hüther. Und wenn er erzählt wird deutlich, dass das nicht nur ein schickes Schlagwort ist, sondern dass die IPS es mit lebendigen Inhalten füllt. „Alle müssen sich wohlfühlen und ein Zuhause haben.“ Das Team ist deshalb bei wirklich allen Fragen ansprechbar (und wird auch angesprochen) und gibt auch Hilfestellung für das Zurechtfinden im deutschen Alltag: Girokonto, Krankenversicherung, Kontakt mit Behörden – aber auch Basics wie etwa die Notwendigkeit, regelmäßig in den Briefkasten zu schauen.
Erfahrungen weitergeben
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ersten Jahrgangs der Internationalen Pflegeschule betreuen nun als Patinnen und Paten die Schülerinnen und Schüler des zweiten Jahrgangs.
Das ist ausdrücklich Teil des Konzepts: Schließlich wissen die jungen Leute, die bereits seit einem Jahr hier sind, aus erster Hand, welche Fragen und Sorgen „die Neuen“ am Anfang besonders beschäftigen. Außerdem können sie eine Menge Tipps für den Alltag an der Schule und in den Krankenhäusern geben.
Nicht überall auf der Welt laufen die Dinge so wie in Deutschland. Damit ist keine Wertung verbunden. Doch einerseits „sind es ganz junge Menschen, die zum ersten Mal alleine leben“, wie Alexandra Schneider-Joppich sagt. Und andererseits tun sie dies auch noch in einem fremden Land. „In Vietnam funktioniert manches verglichen mit Deutschland sehr unterschiedlich“, sagt Alexandra Schneider-Joppich. „Wir müssen da Verständnis schaffen.“ Das IPS-Team habe beispielsweise beobachtet, dass der Umgang mit Dokumenten und offizieller Korrespondenz ein anderer sei. „Als wir das gemerkt haben, haben wir Ordner und Register mitgebracht und das erklärt – auch, dass man von allem Kopien machen sollte.“ Erläuterungen dieser Art sollen in Zukunft Standard sein. „Wir lernen ja selbst viel dazu.“
Siegen: Pflegenotstand – Internationale Pflegeschule öffnet sich für Bewerber aus weiteren Ländern
Das gilt auch für den Umgang im Joballtag. Die jungen Leute aus Vietnam, die die praktischen Teile der Ausbildung in der DRK-Kinderklinik, im St. Marien-Krankenhaus und im Klinikum Siegen absolvieren, seien oft „sehr zurückhaltend“, erklärt Reiner Jakobs. Die Ausbilderinnen und Ausbilder müssten dafür sensibilisiert werden. Wegen dieser Besonderheit sei in manchen Fällen ein wenig mehr Anleitung erforderlich, doch „diese Zurückhaltung ist kein Desinteresse“, sondern liege einfach in Sozialisation, Erziehung und den Konventionen des Herkunftslandes begründet.
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Die IPS ist inzwischen auch für Bewerberinnen und Bewerber aus anderen Ländern geöffnet. Im neuen Kurs sind auch zwei Menschen aus der Türkei und eine Auszubildende aus Angola. Im Oktober startet ein weiterer Kurs, der noch internationaler besetzt sein wird. Die Arbeit und das Herzblut, die alle Beteiligten in das Projekt stecken, zahlen sich jedenfalls aus. Im April 2027 werden in vier Jahrgängen rund 200 Leute die IPS besuchen – also 200 zukünftige Pflegekräfte, um das deutsche Gesundheitssystem zu entlasten. Und die Kreisverwaltung, erwähnt Reiner Jakobs, erhält längst Anrufe aus anderen Kreisen und Kommunen, die sich nach dem Konzept erkundigen. Auch persönlich ist es aber eine Bereicherung, wie aus einer Äußerung von Uwe Mayenschein klar wird: „Diese jungen Menschen geben uns viel. So eine Motivation in den Augen zu lesen – das habe ich vorher nie so gesehen.“
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