Siegerland. 200 Windräder können Energie in Dimensionen eines Atomkraftwerks liefern. Das Geschäft sollen nicht andere machen: Sondern die Menschen vor Ort.
Gewaltige Geldsummen für Energie fließen jedes Jahr aus Siegen-Wittgenstein ab. Günter Pulte hat das mal für den Kreis Olpe, halb so große Bevölkerung, ausgerechnet: 400 Millionen Euro. Pro Jahr entspricht das 3000 Euro – pro Person. Ziemlich viel Kaufkraft. „Wir haben die Möglichkeit, diese Energie hier selber zu erzeugen“, sagt Pulte, Geschäftsführer der Hilchenbacher Rothaarwind GmbH, im Ferndorfer haus der Landwirtschaft – weil der Wind weht, weil die Sonne scheint. Und wenn die Bevölkerung beteiligt wird, die Menschen mitverdienen am regional produzierten Strom – dann bleiben die vielen Millionen Euro hier. „Es ist absurd, dass wir solche Energieressourcen haben und unseren Strom trotzdem importieren.“
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Das soll sich von Grund auf ändern. Mit dem „Siegerländer Modell“ wird derzeit eine Bürger-Energiegenossenschaft mit schlagkräftigen Beteiligten aufgebaut (siehe Infobox), an der sich später, wenn es konkret wird, alle beteiligen können. Vorbild ist der Hauberg: Gemeinsam Waldflächen bewirtschaften, alle bekommen ihren Anteil. Nur dass künftig nicht mehr Holz geerntet wird, sondern Energie. Grundstückseigentümer stellen der Genossenschaft Flächen zur Verfügung, bekommen dafür Pacht, der Strom wird vor Ort vermarktet und verbraucht, alle Mitglieder bekommen ihren Teil vom Kuchen.
Der Siegerländer Wald gehört den Waldgenossenschaften – und die wollen Windenergie
„Wir reden hier über Dimensionen von Atomkraftwerken“, ordnet Georg Jung ein, Bezirksgeschäftsführer von Landwirtschaftlichem Kreis- und Waldbauernverband. 200 Windräder, das entspreche ungefähr der Anlage „Isar 2“ bei Landshut. Dimensionen, die die energieintensive Siegerländer Stahl- und Schwerindustrie aufhorchen lassen dürften. „Wir können zum Teil Selbstversorger werden“, sagt der Wirtschaftsinformatiker Prof. Volker Wulf, Prorektor der Universität Siegen für Regionales und Digitalisierung. Die Siegener Versorgungsbetriebe SVB stecken enorme Ressourcen in die Energiewende, errichten unter anderem eine Photovoltaik-Anlage in Gosenbach und er habe schon jede Menge Anfragen von Unternehmen, die von dort Strom beziehen möchten, sagt Geschäftsführer Thomas Mehrer.
Die Bürger-Energiegenossenschaft
Neben Landwirtschaftlichem Kreis- und Waldbauernverband, Rothaarwind, SVB und Universität gehören die BBWind GmbH aus Münster (Tochterfirma des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands), Siegerlandfonds und Sparkasse Siegen, und die Steuerberatungs-GmbH BSB zur Bürger-Energiegenossenschaft und bringen ihre jeweiligen Kompetenzen in das Siegerländer Modell ein. Sie ermöglicht ihren Mitgliedern Mitbestimmung, in ihrem Interesse, mit wirtschaftlichem Augenmaß, erläutert Georg Jung. Bis die Investitionsphase beginnt, in der sich die breite Öffentlichkeit beteiligen kann, werde es indes noch dauern.
Für die Universität Siegen zum Beispiel gebe es jede Menge Forschungsbedarf rund um die Energiewende vor Ort, sagt Volker Wulf. Als regional verankerte Hochschule mit Fokus auf dem ländlich-industrialisierten Raum und dessen Transformation „tun wir gut daran, uns darum zu kümmern“.
Die ersten 22 Flächen werden derzeit schon geprüft, ob sie sich überhaupt als Windkraft-Standorte eignen. Sobald die Genossenschaft offiziell gegründet und als eG eingetragen ist – voraussichtlich im Sommer, sollen die Flächen gesichert werden
Der Anschub für die Genossenschaft kam von den Waldbauern, die Hüter des Haubergs, gewissermaßen. „Siegen-Wittgenstein ist bei der Windenergie nicht so weit fortgeschritten wie andere Kreise“, sagt Henner Braach, Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Kreisverbands. Geeignete Windpark-Standorte liegen überwiegend im Wald, dafür Genehmigungen zu bekommen – zumindest ziemlich schwierig. Das hat sich geändert. Außerdem gibt es „fürchterlich viele Kalamitätsflächen“ – die sind jetzt freigegeben für Windenergie und gehören im Siegerland zum allergrößten Teil den Waldgenossenschaften. Die Ehrenamtlichen haben nicht die nötigen Ressourcen für Genehmigungsanträge und nicht die Mittel für den Bau. „Denen wollten wir helfen“, sagt Braach. Walter Schäfer, Mitarbeiter von Prof. Wulf und selbst Waldgenosse, hatte die nötigen Kontakte.
Wenn Städte und Gemeinde nicht wollen, legt eben die Privatwirtschaft los
Sie rannten offene Türen ein mit ihrer Idee. „Was machen wir, um unsere Zukunft zu sichern?“, fragt Lothar Klein, Bezirksgruppenvorsitzender im Waldbauernverband NRW – sie haben Grund und Boden und kaum noch Holz, das sie vermarkten können. „Der Wind weht obendrüber.“ Wenn auf ihren Grundstücken Windräder Energie liefern, liefern sie auch die Gewinne, damit die Waldgenossen einen klimastabilen Wald aufbauen können. „Hunderte Hektar neu zu bewalden kostet eine ganze Stange Geld“, sagt Klein. Die Waldeigentümer halten wenig davon, ihre Grundstücke stillzulegen. Die Gewinne wollen sie nicht für sich allein. Alle die wollen, sollen profitieren können. In die Genossenschaften können später alle eintreten.
„Hauberg 2.0“ nennt das SVB-Geschäftsführer Mehrer: „Die Bürger-Energiegenossenschaft war überfällig und ist eine echte Chance.“ Sie sei die Antwort darauf, dass aus der kommunalen Familie nichts aufgebaut werden könne. Oder wolle. Während Kreis und Kommunen in Olpe sich sehr schnell engagierten, sagt Bezirksgeschäftsführer Georg Jung, stieß man in Siegen-Wittgenstein auf Skepsis. Erst im Kreishaus, dann in den Rathäusern. „Wenn alles nichts hilft, gehen wir eigene Wege, die interessant für Waldbesitzer im Siegerland sind.“
Energiewende in Siegen-Wittgenstein: „Unsere Heimat wird sich drastisch verändern“
„Wir stehen vor gewaltigen Veränderungen in der Region“, betont Günter Pulte, „unsere Heimat wird sich drastisch verändern.“ Der Energiemarkt, finanziell einer der größten, werde sich verändern, von zentraler Versorgung zu dezentraler. Aufs Land, da wo Platz ist, wo der Wind weht und die Sonne scheint. Das hat Akzeptanzprobleme – und die könne man lösen, indem man die Menschen beteiligt. Wenn der Wind ihr Windrad dreht und sie das im Geldbeutel spüren. „Es wäre fatal, wenn andere mit unserem Wind Geschäfte machen.“ Der Bürgerwindpark als moderne Fortsetzung des Haubergs, der schon einmal eine Kulturlandschaft gründlich verändert hat: Das Modell habe Chancen, gerade im Siegerland und auch woanders. „Das Problem betrifft ja den ganzen südwestfälischen Raum.“
Das Konzept bündelt einen ganzen Haufen Vorteile. Windräder, die den Menschen vor Ort gehören, die Energie und Gewinne für die Menschen – und Unternehmen – vor Ort liefern, sind nur dringend nötig in Sachen Klimaschutz. Sie sorgen für deutlich weniger Abhängigkeit, sagt Thomas Mehrer. Nicht nur von fossiler Energie, sondern auch vor großen Windenergie-Projektträgern, die derzeit durch die Lande ziehen und sich Flächen sichern, auf denen vielleicht eines Tages Windräder gebaut werden. Vielleicht aber auch nicht. Und dann ist die Fläche für andere weg. „Wir halten die Wertschöpfung in der Region“, sagt Mehrer, „wir entwickeln kein Projekt und verkaufen es dann an einen englischen Fonds, den der Strompreis in Siegen-Wittgenstein nicht interessiert.
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Solche Investoren kennt Günter Pulte zur Genüge. Die locken mit spektakulär hohen Pachten – aber darüber hinaus gibt’s nichts für die Grundstückseigentümer. „Der größte Teil der Wertschöpfung entsteht im 20-Jährigen Betrieb eines Windrads“, erklärt er – und davon bekommt der Projektierer „ein sehr großes Tortenstück. Das wollen wir hier behalten.“ Am Ende gebe es deutlich mehr Geld für die Verpächter, wenn sie eine vernünftige Pacht beziehen – und am Betrieb beteiligt sind. „Echte Bürgerwindparks, die den Leuten gehören, haben neun bis zehn Mal mehr regionale Wertschöpfung als die von externen Projektierern.“ Dass Strompreise wieder sinken: Nicht absehbar. Lokal produzierter Strom kostet übrigens auch weniger.