Siegerland. Energie ist extrem teuer und kaum planbar, der Stahlindustrie steht das Wasser bis zum Hals. Daran hängen tausende Arbeitsplätze im Siegerland.
Der heimischen Schwerindustrie, den energieintensiven Unternehmen in der Region, steht das Wasser bis zum Hals. Stahlfirmen, Maschinen- und Anlagenbau mit ihren rund 4000 Beschäftigten im Siegerland – und längst nicht nur die – machen sich ernsthaft Sorgen um die Zukunft des Produktionsstandorts. Arbeitgeber, Betriebsräte und Gewerkschaften suchen nun den Schulterschluss. Bei allen Unterschieden eint sie das gemeinsame Ziel: Es muss dringend etwas passieren, um vor Ort Arbeitsplätze, die Industrie an sich zu sichern.
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Durch ganze Bündel von Problemen sehen sich Betriebe, die für ihre Produkte nun einmal große Mengen Energie brauchen, mit dem Rücken an der Wand. Nach Billig-Stahl aus China, Corona, Halbleitermangel, gebrochenen Lieferketten prasseln aktuell die Folgen des Ukraine-Kriegs auf die Schwerindustrie ein. Die liegt im Siegerland zu großen Teilen in Händen der Eigentümer: Die heimische Schwerindustrie, das sind sehr viele Mittelständler. Firmen wie BGH Edelstahl, Gontermann und Peipers, Irle Rolls, Walzengießerei Karl Buch. Aber auch ThyssenKrupp Steel (TKS) und die Deutschen Edelstahlwerke (DEW) wollen gemeinsam mit ihren Betriebsräten und der IG Metall der Politik den Ernst der Lage signalisieren. In aller Deutlichkeit. Denn sonst, sagt Jürgen Mockenhaupt, stellvertretender DEW-Betriebsratsvorsitzender, „geht hier nicht nur der Stahl kaputt. Da geht dann die ganze Region den Bach runter.“
Die Siegerländer Stahl-Industrie redet sich den Frust von der Seele
Die Industriegewerkschaft Metall hat zum Stahl-Aktionstag geladen; die Geschäftsführer und die Betriebsratschefs reden sich den Frust von der Seele. Zum Beispiel über die Energiepreise, derzeit wohl das drängendste Problem: „Wir produzieren für Aufträge im nächsten Jahr“, sagt Dr. Petrico von Schweinichen, geschäftsführender Gesellschafter von Irle Rolls in Deuz, frisch aus der Insolvenz. „Unsere Kunden wollen Festpreise. Wir kaufen aber heute die Energie ein.“ Schwierig, wenn keiner weiß, wie sich Energiekosten entwickeln. Ein Industriestrompreis ist daher eine zentrale Forderung aller – die Jonglage mit teils aberwitzigen Kosten an den Energiebörsen soll ein Ende haben. Vor 20 Jahren wurde die Megawattstunde Strom für 30 Euro eingekauft, sagt Jürgen Mockenhaupt. Vor 10 Jahren, in der Finanzkrise, ging es auf 90 Euro hoch. „Seit Corona geht es in den Spitzen auf bis zu 800 Euro.“ Zeitweise habe man den Ofen abgeschaltet, die Leute bei laufender Bezahlung nach Hause geschickt. „Das war günstiger.“
Oder: Energiewende. Ohne die Schwerindustrie wird das nichts, die verbraucht nun einmal enorme Mengen Strom und Gas. Gegen erneuerbare Energie sperrt sich kein Unternehmen – sie wollen aber planen können. Schon heute laufen Induktionsöfen bei Irle Rolls mit grünem Strom, sagt deren Geschäftsführer Petrico von Schweinichen – nur wenige Kunden wollen den Aufpreis dafür zahlen. „Es soll nachhaltig sein, aber nicht mehr kosten.“ Wenn bald die Umstellung auf grünen Strom subventioniert werde, drohten diejenigen leer auszugehen, die es schon getan haben. Es sei gut, dass in Wasserstoff investiert werde, findet DEW-Betriebsrat Tim Becker – hilft nur jetzt nicht. Öfen müssen jetzt laufen, die Preise sind jetzt hoch. Man habe schon 50.000 Euro Stromkosten zurückbekommen, weil an einem hohen Feiertag produziert wurde, als viel Strom verfügbar und entsprechend günstig war.
„Meine größte Sorge ist der Fachkräftemangel – der in der Politik“
Generell, sind sich alle einig, gebe es von der Politik – in Bund und Land – bestenfalls Lippenbekenntnisse, entschieden werde wenig. Und wenn, nicht umgesetzt. Wie der Wind-Strom, der es mangels Trassen nicht vom Norden in den Süden schafft. Oder es wird gebremst, Überregulierung und Bürokratie. Rahmede steht immer noch. „Meine größte Sorge ist der Fachkräftemangel – nicht hier, sondern in der Politik“, sagt Petrico von Schweinichen. „Die haben nur ihre eigenen Interessen im Kopf. Würde ich das Unternehmen so führen wie Landes- und Bundesregierung, wären wir schon vier Mal pleite.“ Es gehe um nicht mehr und nicht weniger als den Standort Deutschland: „Ich habe oft den Eindruck, die Industrie ist hier nicht mehr erwünscht“, sagt Helmut Renk, TKS-Betriebsratschef in Kreuztal. „Wir sind ein Verhinderungsland, wir diskutieren alles tot.“ „Die letzten Jahre haben was mit den Leuten gemacht“, berichtet BGH-Betriebsrat Hakan Yilmaz. Sie kämen kaum noch zur Ruhe, hätten permanent Angst um ihre Existenz. Die Firmen wissen kaum noch, wie sie die Produktion planen sollen, was sie mit ihren Leuten machen sollen, die sie nicht verlieren wollen, auch wenn das Werk still stehen muss. „Kopfloses Rumgeeier ist nicht zielführend.“
Fachkräftemangel gebe es nicht nur in Berlin und Düsseldorf: Auch bei explodierenden Energiekosten müssen noch konkurrenzfähige Löhne gezahlt werden, damit junge Menschen sich für die Arbeit bei Dreck, Lärm und Hitze entscheiden, sagt Frank Hannebauer, Betriebsrat bei Gontermann und Peipers. „Das macht uns richtig Kopfzerbrechen.“ Wenn die Entwicklung so weitergehe, werde es energieintensive Unternehmen nicht mehr geben. Und ich habe manchmal den Eindruck: Das ist so gewollt.“
Wie geht es weiter mit den energieintensiven Unternehmen in Siegen und Deutschland?
Es braucht ein neues, gesellschaftliches Bild von der Industrielandschaft in Deutschland, sagt IG-Metall-Sekretär Peter Richter. Die Industrie – Geschäftsführungen und Belegschaften – müssten zusammen mit der Gewerkschaft gemeinsame Ziele definieren und kommunizieren. Und das in einer Weise, die im Zweifel auch über Warnen und Hinweisen hinausgeht. Denn die Industrie, auch da sind sich alle einig, ist die Basis der deutschen Wirtschaft, hier entsteht Wertschöpfung, hier wird etwas hergestellt und weiterverkauft. Noch. „Wenn man’s nicht mehr selber macht, ist am Ende nichts mehr da“, sagt Petrico von Schweinichen.
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Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat die Globalisierung, wie man sie Jahrzehnte kannte, beendet. Abwarten und meckern dürfte nicht viel bringen, auch da sind sie sich einig. Es brauche ein breites Bündnis, ein Paket für eine zukunftssichere und umweltbewusste industrielle Zukunft, in Deutschland und im Siegerland. Frank Hippenstiel, Geschäftsführer Technik bei BGH Edelstahl, denkt schon ein paar Schritte weiter: „Was nützen uns 30 Euro die Megawattstunde, wenn uns die Kunden ausgehen?“ Es gehe auch um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung für einen existenzfähigen Staat, für den Wohlstand aller. Seiner Ansicht nach sei die deutsche Industrie bereits abgehängt und werde das womöglich auch bleiben. Erst recht, wenn China nicht nur billigen, sondern auch noch CO2-freien Stahl herstellt, mit Atomstrom.
„Wir hängen an unseren Arbeitsplätzen“, sagt Hakan Yilmaz. Inzwischen klebten sie geradezu daran. „Wir sind bereit, dafür auch auf die Straße zu gehen.“