Siegen. Im Kreisklinikum Siegen wird Patienten mit krankhaftem Übergewicht (Adipositas) geholfen – in einem für die Region einmaligem Kompetenzzentrum.

Menschen mit Übergewicht werden nicht selten abfällig angeschaut. Manchmal ist es nicht nur das. „Reiß dich doch ein bisschen zusammen!“ – diesen Satz bekommen sie so oder in unhöflicherer Form zu hören. Doch Abnehmen ist nicht so leicht, wie viele denken. An krankhaftem Übergewicht (Adipositas) erkrankte Menschen versuchen es oft jahrelang ohne Erfolg.

Adipositas ist eine chronische Erkrankung und kein Lifestyle-Problem“, sagt Privatdozent Dr. Sebastian Dango, Facharzt für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Er möchte den Erkrankten helfen und hat dafür eine Reihe Experten im Kreisklinikum in Siegen versammelt. Im Oktober wurde dort das Kompetenzzentrum für Adipositas- und Metabolische Chirurgie zertifiziert. „So etwas gab es noch nie in der Region“, unterstreicht der kommissarische Leiter der Abteilung Allgemein- und Viszeralchirurgie.

Siegen: Adipositas-Erkrankte sind zum teil „extrem sportlich“

Viele der Patienten, die das Adipositas-Zentrum im Kreisklinikum aufsuchen, haben einen langjährigen Krankheitsverlauf hinter sich. Die Mehrzahl der Patienten von Dr. Sebastian Dango hat einen BMI (Body-Mass-Index) ab 50 kg/m2, als krankhaft übergewichtig (adipös) gilt man ab einem Wert von über 30 kg/m2. Die Datenlage ist eindeutig, erklärt der Experte: Menschen, die über einen längeren Zeitraum einen BMI ab 40 haben, schaffen es häufig nicht eigenständig, abzunehmen. Und das Klischee „Zu viel (ungesundes) Essen, zu wenig Sport“, ist eben auch nicht die Erklärung für jedes Übergewicht.

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„Ich habe auch extrem sportliche Patienten“, betont Dr. Sebastian Dango. Doch selbst diese Lebensweise sorgt nicht immer dafür, dass Menschen auch schlank sind. Manchmal hätten seine Patienten „ganz schlechte Gene“. Sprich: Egal, wie gesund sie sich ernähren oder wie viel Sport sie treiben, sie sind trotzdem übergewichtig. Der Körper arbeitet gewissermaßen gegen sie.

Mediziner aus Siegen: Adipositas eine der „meist unterschätzten Erkrankungen“

„Es gibt wenige, die Adipositas ernst nehmen“, beklagt Dr. Sebastian Dango. „Dabei ist es die Erkrankung des nächsten Jahrhunderts.“ Adipositas gehöre zu den „meist unterschätzten Erkrankungen“, sei „hoch tabuisiert“. Gerade die Sozialen Medien würden das Schlankheitsideal der Gesellschaft noch stärker verschärfen. Hinzu komme, dass von dieser Erkrankung soziale Randgruppen besonders häufig betroffen sind.

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Aufgrund all dieser Faktoren schätzt es Dr. Sebastian Dango besonders, den Adipositas-Erkrankten, die häufig schon viel Leid vor der Therapie erfahren haben, helfen zu können. Es ist seine „absolute Leidenschaft“. „Die Adipositaschirurgie ist die einzige Chirurgie, die vollumfänglich wirken kann“, sagt er – die sich bei einer erfolgreichen Behandlung neben dem Körper eben auch auf die Psyche positiv auswirken kann. „Hier kann ich heilend tätig sein“, unterstreicht der Mediziner.

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„Ich bin nicht für Pimp-my-body zuständig“, sagt Dango. Es ginge um die Behandlung einer ernsthaften Erkrankung. Es gehe aber auch darum, keine falschen Hoffnungen zu wecken. „Wer jahrelang einen BMI ab 50 hatte, dem kann ich keinen ‚Waschbrettbauch‘ versprechen.“ Die Hemmschwelle, das Adipositas-Zentrum aufzusuchen, sinke umso mehr, je größer der Leidensdruck und die Beschwerden (Blutzucker, erhöhte Blutfette, Knieschmerzen, etc.) würden. Auch sei der Weg leichter, wenn die Patienten einen guten Hausarzt hätten, der sich mit dem Thema auskenne und die Patienten unterstütze.

Kreisklinikum Siegen: Adipositas-Zentrum bündelt Expertise

Im Adipositas-Zentrum bündelt Dr. Sebastian Dango die Kompetenz vor Ort: Er bietet alle chirurgischen Verfahren an, die zur Therapie von Adipositas und der daraus folgenden Stoffwechselstörungen möglich sind. Sei es das Magenband, der Schlauchmagen, die Bypass-Chirurgie oder Umwandlungsoperationen (Redo). Von letzterem spricht man, wenn das Behandlungsverfahren gewechselt wird. Dass alle chirurgischen Verfahren angeboten werden, ist eine der Bedingungen, um als Kompetenzzentrum für Adipositas- und Metabolische Chirurgie zertifiziert zu werden, erläutert Dango.

Mangelnde Prävention

„Die Adipositas-Prävention wird von der Gesellschaft nicht unterstützt. Da gibt es erhebliche Schwächen“, sagt Dr. Sebastian Dango. Schulsport habe etwa keinen Stellenwert, hinzu komme eine „massive Verzuckerung der Ernährung“.

„Wir laufen dem Problem massiv hinterher“, unterstreicht der Mediziner. Während bei Erwachsenen die Zahl der Adipositas-Erkrankten in etwa konstant bleibe, nehme die Zahl bei den Kindern weiter zu.

Auch sekundäres Adipositas (eine andere Erkrankung ist der Verursacher) muss beim Erstgespräch mit dem Patienten ausgeschlossen werden. Außerdem muss nachgewiesen sein, dass dieser eine Ernährungstherapie durchlaufen hat. Ebenso muss das Konzept der „lebenslangen Nachsorge“ dem Patienten klar, sowie Interdisziplinarität im Zentrum garantiert sein.

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Es sind einige Faktoren mit vielen Details, die das Kreisklinikum sicherstellen musste, bevor es ein Kompetenzzentrum für Adipositas- und Metabolische Chirurgie einrichtete. Umso größer ist die Freude, dass dies nun gelungen ist. Als Ernährungsberaterin unterstützt Judith Arns das Team, als weiterer Operateur und Oberarzt Dr. Daniel Sinn.

Siegen: Mediziner stimmt Adipositas-Behandlung genau auf Patienten ab

Nicht jedem empfiehlt Dr. Sebastian Dango eines seiner Therapieverfahren. Bei einem Gespräch wägt er ganz individuell ab, was für seinen Patienten oder seine Patientin am besten ist. „Das Wichtigste ist, Vertrauen aufzubauen.“ Die Arbeit im Zentrum sei keine „Fließbandarbeit“, für das Erstgespräch und alles Weitere wird sich ausreichend Zeit genommen. „Die Patienten wissen: Ich bin Arzt, ich weiß, dass sie chronisch erkrankt sind.“ Eine umfassende Anamnese sei vor der Behandlung unabdingbar. Bei der Auswahl der Therapie spiele das Alter eine Rolle, aber auch „wie krank“ ein Patient ist. Und zu allerletzt muss dieser auch verstehen, was ein möglicher Bypass bedeuten würde, denn damit sind dauerhaft Konsequenzen für den eigenen Lebensstil verbunden.

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„Die Patienten haben aber auch teilweise sehr klare Vorstellungen“, so Dango. Sie haben sich vorher meist mit der Erkrankung und den Therapiemöglichkeiten beschäftigt, sich ihren „Behandlungsfavoriten“ ausgesucht. „Bevor operiert wird, kennen sie alle Verfahren“, unterstreicht Dango. „Jemanden, der eine manifeste Bulimie hat oder eine manifeste Suchterkrankung, operiere ich nicht.“

Mehr Infos über das Adipositas-Zentrum und die Behandlungsmöglichkeiten gibt es unter www.kreisklinikum-siegen.de.