Siegen/Olpe. Gerade im Kreis Olpe leisten Vereine unglaublich viel. Doch wie sähe ein Leben ohne Vereine aus? Ein Forscher der Uni Siegen wagt eine Prognose.
Wie sähe der Kreis Olpe ohne Vereine aus? Prof. Dr. Thomas Coelen (54), Erziehungswissenschaftler an der Universität Siegen, zeichnet im Interview mit Ina Carolin Lisiewicz ein trostloses Bild und spricht über die zukünftige Entwicklung der Vereinsarbeit.
Kreis Olpe: Menschen engagieren sich ehrenamtlich aus zwei Gründen
Was motiviert Menschen, sich ehrenamtlich zu engagieren?
Thomas Coelen: Auf der einen Seite möchten sich viele für andere engagieren, auf der anderen Seite möchten einige mit dem Ehrenamt etwas für sich selbst tun. Sie engagieren sich zum Beispiel, um eine sinnvolle Beschäftigung zu haben oder um Kompetenzen zu erlangen, die man auch beruflich brauchen könnte. Der erste Grund ist der klassische, immer noch vorherrschende. Der zweite Grund ist der, der in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.
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Welche Kompetenzen kann man sich denn zum Beispiel aneignen?
Das ist natürlich ein riesengroßes Spektrum – vom Fußballverein bis zu den konfessionellen, technischen und helfenden Verbänden. Da gibt es eigentlich nichts, was man sich nicht aneignen kann.
Ehrenamt in Vereinen: „Die praktische Arbeit leisten mehr die Frauen“
Was ist für Sie ein Verein?
Im Grunde genommen ist alles ein Verein, was nicht Familie, Firma oder Staat ist. Auch Stiftungen, Verbände und kleine Projektgruppen sind Vereine. Die führen zwar nicht alle das Kürzel „e. V.“ (eingetragener Verein, Anm. d. Red.). Aber es sind alles Vereine. Dadurch ist das Spektrum der Tätigkeiten und der Kompetenzen so breit wie das der ganzen Gesellschaft.
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Engagieren sich mehr Männer oder Frauen in Vereinen?
Das ist extrem unterschiedlich, sowohl in Bezug auf die Art der Vereine, die Region und die Tätigkeiten. Die repräsentativen Ämter sind meistens mit Männern besetzt. Die praktische Arbeit leisten, wie auch sonst in der Gesellschaft, mehr die Frauen. Wenn man sich einmal das Vereinsspektrum insgesamt ansieht, engagieren sich dort auch mehr Frauen ehrenamtlich.
Kreis Olpe: „Vereine sind wichtiger denn je“
Wo sehen Sie hier Nachbesserungsbedarf?
Das Problem, dass mehr Männer die repräsentativen Posten einnehmen, gibt es ja in der ganzen Gesellschaft, nicht nur in den Vereinen. Das ist allerdings nicht nur deshalb so, weil Frauen beiseite gedrängt werden. Viele Frauen finden das auch in Ordnung: Sie konzentrieren sich lieber auf andere Tätigkeiten. Würden sich mehr Frauen für die Vorstandsposten finden, könnten sie ein Vorbild für die jungen Mädchen in den Vereinen sein.
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Würden Sie denn sagen, dass das Vereinsmodell überhaupt noch „up to date“ ist?
Auf jeden Fall. Vereine sind wichtiger denn je. Unsere Gesellschaft wird durch Vereine zusammengehalten. Eine Gesellschaft wie unsere besteht aus Familien in sehr vielen Varianten, aus öffentlichen Einrichtungen wie Kitas und Schulen, aus Firmen und eben Vereinen. Jetzt gibt es einige, die sagen: Wir haben doch noch die religiösen Gemeinschaften. Aber auch deren Organisationsform sind letztendlich Vereine. Alles, was Kirche lebendig macht, ist Verein.
Wissenschaftler der Uni Siegen: Vereine sind für Demokratie „essenziell“
Was unterscheidet die Vereine von den anderen Institutionen, die Sie genannt haben?
Hier herrschen Logiken vor, die wir in anderen Bereichen nicht so stark haben: Den Unternehmen geht es vorrangig um Gewinne, dem Staat um die Daseinsvorsorge, in der Familie geht es um die Bewältigung des Alltags und um Liebe. Für alles andere, was man braucht, um über gesellschaftliche Gruppen hinweg zu kommunizieren und sie zu verstehen, braucht es Vereine. In einer Firma, im Staat oder in der Familie wird man nicht ohne Weiteres zum Demokrat bzw. zur Demokratin. Im Verein hingegen basiert alles auf Mitbestimmung. Wenn da nicht mitbestimmt wird, löst er sich innerlich auf. Ein Verein ist diejenige Institution in unserer Gesellschaft, in der man lernt, demokratisch zu werden.
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Nicht jeder Verein setzt auf Mitbestimmung...
Das stimmt. Viele Vereine sind total verknöchert, bei anderen gibt es Vereinsmeierei. Auch die AfD ist ein Verein – man kann also auch das Gegenteil von demokratisch werden. Aber rein strukturell gesehen, sind Vereine diejenigen Organisationen, die per se und unhintergehbar auf Mitbestimmung angelegt sind. Für die Demokratie sind sie essenziell.
Kreis Olpe: Wird sich die Vereinslandschaft wegen Corona verändern?
Gerade während Corona kommt die Vereinslandschaft fast gänzlich zum Erliegen. Wird sie sich nach der Krise verändern?
Das glaube ich schon, so, wie sich die gesamte Gesellschaft verändern wird. Aber in welcher Weise das passieren wird, kann ich nicht voraussehen. Am Anfang wird es vermutlich so sein, dass wir alle völlig ausgehungert nach öffentlichem Austausch suchen werden. Neben den Fußgängerzonen, Bars und Cafés werden die Menschen auch wieder die Vereine aufsuchen. Aber wie sich Corona langfristig auf das Vereinswesen auswirkt, kann ich nicht voraussehen. So eine Situation wie jetzt gab es noch nie in der Moderne.
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Wie sähe eine Gesellschaft ohne Vereine aus?
Arm und öde. Die Vereine sind der Ort des öffentlichen Austauschs, des Engagements, der Willensbildung und der Gestaltung der Gesellschaft. Wir hätten dann den gesamten Bereich dessen, was ich als Kern des öffentlichen Lebens betrachte, nicht mehr. Alle kulturellen Initiativen sowie die nicht-kommerziellen und experimentierfreudigen Bereiche würde es nicht geben. Eine pluralistische Gesellschaft ohne Vereine ist undenkbar.
Ehrenamt im Kreis Olpe: Vereinsarbeit auf dem Land tief verwurzelt
Inwieweit unterscheidet sich die Vereinsarbeit in der Stadt und auf dem Land?
Landkreise, wie zum Beispiel Olpe, haben eine höhere Engagementquote. Gerade die traditionellen Vereine, wie etwa Schützenvereine oder freiwillige Feuerwehren, sind dort viel ausgeprägter als in Städten. Hier ist es total normal, Mitglied eines Vereins zu sein. Das bringt natürlich eine hohe Zahl an Ehrenamtlichen und Mitgliedern mit sich. Man muss sich das nur einmal für Kinder und Jugendliche vor Augen führen: In Deutschland ist mindestens ein gutes Drittel aller Kinder und Jugendlichen regelmäßig in Vereinen aktiv.
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Das sind echt viele.
Das ist eine enorm hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass in Vereinen alles auf Freiwilligkeit basiert. Das haben wir in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich.
Ehrenamt: Trend geht hin zur projektbezogener Arbeit
Insgesamt habe ich aber den Eindruck, dass sich die klassische Vereinsarbeit mehr zur projektbezogenen Arbeit hin entwickelt.
Das ist der Fall, gerade bei Jugendlichen. Hier ändert sich das langfristige, nachhaltige Engagement hin zum thematischen, projektbezogenen. Das kann auch ein Problem sein, weil traditionelle Vereine das eher als unengagiert und egoistisch wahrnehmen. Das ist aber auch ein Gewinn, weil durch wechselnde Projekte mehr Leben in die Vereine kommt. Die jungen Leute sind heute viel engagierter als früher. Insgesamt hat sich die Anzahl derer, die sich ehrenamtlich engagieren, sogar erhöht. Es haben sich jedoch die Dauer und die Formen des Engagements verändert.
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Welche Tipps würden Sie Vereinen für die Zukunft geben?
Die Vereine sind gut beraten, wenn sie Jugendliche mit wechselnden, kurzzeitigen Projekten abholen. Sie sollten die egozentrische Form des Engagements ernstnehmen. Und sie sollten jungen Leuten nicht sagen: „Im Verein lernst du etwas.“ Das hört sich zu sehr nach Schule an.