Hagen. Hohe Verluste bei den Kraftwerken, eine besorgt-verunsicherte Belegschaft, Personalabbaukonzepte und Dividenden-Ausfälle: Es ist viel im Fluss bei dem heimischen Energieversorger Enervie Entscheidende Punkte dieser komplizierten Materie noch einmal genauer unter die Lupe genommen:
Hohe Verluste bei den Kraftwerken, eine besorgt-verunsicherte Belegschaft, Personalabbaukonzepte und Dividenden-Ausfälle: Die Enervie-Gruppe macht aktuell Schlagzeilen, die sich kaum eine Marketingabteilung wünscht. Es ist viel im Fluss bei dem heimischen Energieversorger, mit dem – ob durch Wasser, Strom oder Gas – jeder Hagener zu tun hat. Entscheidende Punkte dieser komplizierten Materie noch einmal genauer unter die Lupe genommen:
Die Ausgangslage:
Im vergangenen September hatte Enervie seinen gesamten konventionellen Kraftwerkspark in der Region (Herdecke, Werdohl-Elverlingsen, Finnentrop und Kabel) bei der Bundesnetzagentur abgemeldet. Der Grund: Die großen Mengen subventionierten Stroms, die durch regenerative Energien mit Vorrang ins Netz gelangen, führen zu drastisch zurückgehenden Betriebszeiten in den konventionellen Enervie-Kraftwerken. Tag für Tag werden Verluste eingefahren, die sich bislang pro Jahr auf 40 Millionen Euro summieren. Aber es soll noch mehr werden.
Die Kraftwerke lohnen sich aus Sicht des Unternehmens in der jetzigen Marktsituation schlichtweg nicht mehr. Doch ohne sie könnte die Energiestabilität in ganz Südwestfalen bedroht sein. Denn sie müssen einspringen, wenn nicht genug Strom vorhanden ist: Etwa 600 Megawatt Leistung kann die Kuppelstelle des vorgelagerten Netzbetreibers Amprion Garenfeld derzeit an Durchleitungskapazität garantieren, benötigt wird aber zumindest werktags eine Einspeise-Leistung von 900 Megawatt – an manchen Tagen auch deutlich mehr. Da Südwestfalen in Sachen Energie bundesweit eine einmalige Insellage hat und es derzeit keinen anderen Einspeisepunkt an das Höchstspannungsnetz gibt, müssen die Enervie-Kraftwerke für den Ausgleich sorgen. Doch das lastet sie bei Weitem nicht aus.
Die Bundesnetzagentur bewertet sie als systemrelevant, sie untersagt daher die Abschaltung. Auch Enervie hält seine Kraftwerke für die Energiesicherheit derzeit für unersetzlich, aber das Unternehmen will höhere Ausgleichszahlungen für die Bereitstellung dieser Kraftwerke haben, um diese wirtschaftlich betreiben zu können.
Die Kraftwerksoptionen:
Da Enervie die Kraftwerke vorerst nicht abschalten darf, ergeben sich nun zwei Optionen. Lässt das Unternehmen sie nach den Bestimmungen der 2013 in Kraft getretenen Reservekraftwerksverordnung weiterlaufen, dann speisen sie nur Strom ein, wenn dieser zur Netzsicherheit gebraucht wird. Die Kosten für diese Vorratshaltung wird Enervie aber wohl auf keinen Fall gänzlich refinanziert bekommen. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) hatte schon bei Inkrafttreten des Gesetzes kritisiert, dass überhaupt nicht geregelt sei, wie die betroffenen Kraftwerksbetreiber ihrer tatsächliche Kosten erstattet bekommen.
Die zweite Option ist das sogenannte Redispatch-Verfahren. Grob ausgedrückt bedeutet dies: Die Enervie-Kraftwerke müssten auf Geheiß der Übertragungsnetzbetreiber weiter einspringen, um die Netzsicherheit zu gewährleisten. Sie könnten aber auch sonst weiter
am Strommarkt agieren und auch zu andere Zeiten Strom einspeisen. Damit wäre Enervie flexibler – auch wenn für die kommenden Jahre nicht erwartet wird, dass das Unternehmen auch nur annähernd wieder die alten Strommengen auf dem Markt loswerden wird.
Spätestens im September muss diese Frage entschieden sein. Gesamtbetriebsratschef Thomas Majewski hofft auf den Redispatch-Weg: „Der bietet mehr Perspektiven für die Arbeitnehmer.“
Wer bezahlt?
Wer bezahlt eigentlich dafür, dass die Kraftwerke als Reserve für die Netzsicherheit vorgehalten werden? Es sieht derzeit danach aus, dass Enervie als Betreiber des regionalen Verteilnetzes in unserer Region dafür zuständig ist und demnach die Netzentgelte verteuern müsste. Und damit wird der Strom für Privatleute wie für Firmen teurer. Denn jeder Stromanbieter muss die Netzentgelte an den jeweiligen Netzbetreiber zahlen, der erst den Weg zum Kunden ebnet – aber diese Mehrkosten legt jeder Anbieter im Zweifel auch auf die Kunden um. Musterrechnungen von Enervie haben ergeben, dass eine Durchschnittsfamilie wohl 50 Euro mehr im Jahr zahlen muss.
Daher argumentiert das Unternehmen auch, dass eigentlich der Betreiber der Übertragungsleitungen, also Amprion, für die Mehrkosten der Kraftwerks-Bereitstellung aufkommen müsse. Dessen Netzgebiet und die Kundenzahl seien viel größer, dementsprechend müsse der Einzelne bei Erhöhung der Netzentgelte viel weniger zahlen. Doch die Bundesnetzagentur sieht das bisher anders.
Auswirkungen auf die Stadt:
Angesichts der massiven Verluste der Kraftwerkssparte wird die Enervie-Gruppe weder in diesem, noch im nächsten Jahr eine Dividende an die Aktionäre ausschütten können. Diese fließt im Fall der Stadt Hagen, die mit knapp 43 Prozent an dem heimischen Energieversorger beteiligt ist, nicht etwa in die Kasse des Kämmerers, sondern wird an die Hagener Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (HVG) überwiesen, um dort das Defizit abzumildern. Durch den jetzt auftretenden Ausfall muss jedoch nicht bloß das Seegeflüster abgesagt werden, sondern das Unternehmen muss die jährlich fehlenden sieben Millionen Euro durch einen Griff in die Rücklagen kompensieren. Es wird also Substanz und damit ein Stück Zukunftsfähigkeit der HVG verfrühstückt. Denn die Stadt selbst, die ja ohnehin das Jahresminus von zuletzt knapp zehn Millionen Euro abfängt, hat angesichts der Nothaushaltssituation bereits signalisiert, für weitere Ausfälle nicht geradestehen zu können. Ob und in welcher Höhe im Jahr 2016 wieder eine Dividende an die HVG fließen könnte, ist im Moment noch völlig offen.
Die Sorge der Mitarbeiter:
Die Stimmung in der Belegschaft ist schlecht – das hört unsere Zeitung vielfach aus der Mitarbeiterschaft. Und Betriebsratsvorsitzender Thomas Majewski will dem auch nicht widersprechen. Zu groß seien die Umwälzungen der vergangenen Jahre gewesen. „Die Fusionsprozesse von Mark-E mit den Stadtwerken Hagen und schließlich mit den Stadtwerken Lüdenscheid sind bis jetzt noch nicht richtig abgeschlossen.“ Es habe diverse Restrukturierungsmaßnahmen gegeben, die auch immer wieder eine Belastung für die Kollegen gewesen seien. Dann seien im vergangenen Jahr auch noch alle Betriebsvereinbarungen zu verschiedenen Zulagen gekündigt worden.
Und auf diese Grundstimmung träfen jetzt die aktuellen Schwierigkeiten, die neue Unsicherheit in das Unternehmen trügen. Dass derzeit die Kraftwerkssparte in Not sei, beruhige die anderen Sparten keineswegs: „Jeder weiß, dass die Sparmaßnahmen alle Bereiche treffen werden“, so Thomas Majewski. Den jetzt von der Geschäftsführung angepeilten zusätzlichen Sozialabbau sieht Majewski mehr als kritisch: „Die Arbeit noch mehr verdichten, geht in vielen Bereichen gar nicht mehr.“ Auch in den derzeit nicht ausgelasteten Kraftwerken würden die rund 400 Mitarbeiter keineswegs Däumchen drehen. Im Gegenteil: „Wir laufen in der Erzeugung personell auf dem Zahnfleisch“, so Gesamtbetriebsratschef Majewski.
Das liege auch daran, dass sich schon viele Mitarbeiter aus der Kraftwerkssparte unternehmensintern auf Stellen in anderen Bereichen beworben hätten.
Die Geschäftsführung müsse nun darlegen, wo im Unternehmen mit welchen Auswirkungen eingespart werden solle – und welche Leistungen das Unternehmen gegebenenfalls gar nicht mehr anbieten wolle.
Eine rechtliche Grundlage für betriebsbedingte Kündigungen sieht Thomas Majewski nicht. Wenn nun ein weiterer Arbeitsplatzabbau auf nur noch 1080 Stellen anstehe, müsse dieser sozialverträglich erfolgen.
Was sagt der Vorstand?
Wird es zu betriebsbedingten Kündigungen kommen? „Das ist derzeit nicht geplant“, sagt Vorstandssprecher Ivo Grünhagen und verweist vielmehr darauf, dass man auch bislang durch sozialverträgliche Lösungen relativ geräuschlos den Arbeitsplatzabbau geschafft habe. Und man setzt darauf, dass Mitarbeiter durch Weiterqualifizierung neue Aufgaben übernehmen können, wenn ihre alten wegfallen. „Wir haben zum Beispiel ein elektronisch gestütztes Personalentwicklungs- und -steuerungssystem eingeführt“, so Grünhagen. Damit könne man in dem großen Unternehmen viel besser sehen, wer wo eingesetzt werden könne.
Wer steckt hinter Enervie und Amprion?
Die Enervie-Gruppe (Strom, Gas, Wasser) ist aus mehreren Fusionen entstanden. Zunächst durch die Verschmelzung zwischen den Stadtwerken Hagen und der Mark-E, dann durch den Zusammenschluss mit den Stadtwerken Lüdenscheid. Neben den Städten Hagen (42,66 %) und Lüdenscheid (24,12%) ist bislang RWE der drittgrößte Anteilseigener. Doch der Energie-Riese will die Anteile verlaufen. Wahrscheinlich an den Entsorger Remondis. Die verbleibenden 14,16 Prozent entfallen auf neun weitere Kommunen.
Die Amprion GmbH ist Betreiber eines rund 11.000 Kilometer langen Höchstspannungsnetzes im Westen und Südwesten. Amprion mit Sitz in Dortmund war früher ein Teil von RWE. Heute ist es ein Konsortium von Finanzinvestoren.
Parallelstrukturen, die es innerhalb des Unternehmens immer noch gebe, müssten abgebaut und Prozesse beschleunigt werden. Und zwar in jedem Bereich. Dass nun die Erzeugungssparte das Sorgenkind ist, bedeutet nicht eine Ruhephase für den Vertrieb oder Netzbereich. Vorstandssprecher Grünhagen formuliert deutlich: „Jeder Bereich muss in sich wirtschaftlich sein und muss soviel Gewinne erwirtschaften, dass Investitionen gesichert werden können.“
Und auch wenn eine komplette Abschaltung der Kraftwerke möglich gewesen wäre, für Grünhagen wäre es keineswegs eine Wunschoption gewesen. „Dann wären wir zwar nur noch ein reines Vertriebs- und Netzunternehmen und würden beachtliche Gewinne einfahren. Aber dann müssten wir auf einen Schlag über 400 Arbeitsplätze abbauen - und da hängen Familien dran.“ Zudem blicke man mit Mark-E auf eine mehr als 105 Jahre währende Geschichte der Energie-Produktion in der Region zurück. „Da fühlen wir uns schon verpflichtet.“
Wie schätzt der Vorstand die Stimmung in der Belegschaft ein? Ivo Grünhagen hat in den vergangenen Wochen Gespräche an runden Tischen mit insgesamt 160 Führungskräften geführt, die ihm auch die Stimmung aus der Belegschaft spiegeln sollten. Sein Fazit: „Ich denke, die Leute haben verstanden, dass wir ein Riesenproblem haben, das wir lösen müssen. Und ich habe dabei nicht das Gefühl, dass die Mitarbeiter Angst haben, dass wir nicht wissen, was wir tun.“ Und immerhin habe man auch auf der Führungsebene Sparwillen gezeigt. Allein die Ebene unterhalb des Vorstands habe man in mehreren Schritten von 27 Stellen zunächst auf elf und nun noch einmal auf neun reduziert.
Die neue Firmenzentrale:
Passt die neue 40 Millionen Euro teure Firmenzentrale, die im Mai auf Haßley eröffnet werden soll, in die Landschaft? Vorstandssprecher Ivo Grünhagen sagt Ja: „Das ist kein Palast, das ist ein reiner Funktionsbau“, so Ivo Grünhagen. „Und wir sind sowohl im Zeit- als auch im Kostenplan.“ Man werde die Investitionskosten schnell durch günstigere Arbeitsprozesse und die Aufgabe der bisher verstreuten Dienststellen – und damit vermiedene Mietkosten – kompensiert haben. Einen Widerspruch zwischen Sparzwang und neuer Firmenzentrale will Grünhagen also nicht sehen. Gleichwohl sagte er: „Wir haben die Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt getroffen, heute würde es dafür vielleicht keine Mehrheit mehr geben.“
Das glaubt Gesamtbetriebsratschef Thomas Majewski auch, bei der Bewertung der neuen Zentrale gebe es aber ganz unterschiedliche Strömungen in der Belegschaft: „Das Stimmungsbild ist sehr differenziert. Da gibt es Mitarbeiter, die sich auf das Neue freuen. Aber es gibt auch Kollegen die Bedenken haben wegen der neuen Arbeitsformen ohne abgeschlossene Büroräume.“