Hagen. . Manchmal gelingt es wirklich, aus der Not eine Tugend zu machen, und hierbei entpuppt sich die Tugend sogar als echter Glücksfall: Weil im Großen Haus noch die Handwerker Regie führen, muss die Hagener „Cabaret“-Produktion auf die Probenbühne ausweichen - und gewinnt dadurch zusätzlich an unmittelbarer, buchstäblich greifbarer Atmosphäre.
Das Musical beginnt bereits im Foyer. Spärlich bekleidete Damen verteilen Zigaretten-Päckchen (mit Kaugummi) und animierende Club-Tänzerinnen stellen auf dem Bar-Tresen eindrücklich ihre Reize zur Schau. Dann aber kommt er auch schon, dieser aalglatte, diabolisch geschminkte und grinsende Conférencier und bittet das einschlägig eingestimmte Publikum verlockend auf die Plätze vor der Bühne. Und so unkonventionell der turbulente Auftakt ist, so originell und überraschend geht es während der nächsten drei Stunden weiter: Frivol und ungestüm, lasziv und liebevoll, aber eben auch ernst, bedrückend und erschütternd.
Beliebte Ohrwürmer
„Cabaret“, das weltberühmte Musical mit den melodiösen Ohrwürmern (Maybe this time“, Money, money“, „Mein Herr. . . „) und der aufwühlenden Politbotschaft (Judenverfolgung im Dritten Reich), wird am Hagener Theater zu einem bewegenden Erlebnis.
Regisseur Thilo Borowczak inszeniert mit sicherer Hand und jenem Fingerspitzengefühl, das ihm gerade diese dramatisch Mischung aus überbordender Lebensgier und todbringender Ideologie auferlegt. Mit Barbara Tartaglia steht ihm dabei eine Choreografin zur Seite, die die Tanzpassagen in eben gleicher Verantwortung vor der brisanten Aufgabe zu meistern versteht.
Aus der Besetzung ragen drei Personen deutlich heraus: Marysol Ximénez-Carillo in der Rolle der stimmlich bestens besetzten Sally Bowles, Henrik Wager als ungemein präsenter und mitreißender Conférencier sowie Werner Hahn, der dem jüdischen Obsthändler Schultz eine tief-tragische Menschlichkeit verleiht; ein Meister der leisen, verhaltenen Töne, die gerade deshalb so ungemein durchdringend und anrührend sind.
Verstärkt durch die kurzen, aber intensiven Auftritte des Opern-Chores und des spielfreudigen Orchesters unter der präzisen Leitung von Steffen Müller-Gabriel fügt sich das Musical scheinbar wie von selbst zu einem homogenen Ganzen.
Viele gute Regie-Einfälle
Ein wahres Feuerwerk an Regie-Einfällen beflügelt regelrecht die Akteure, verlangt ihnen aber auch eine beachtliche Menge an Einsatzbereitschaft ab. So werden die Publikumsränge immer wieder als Auf- und Abgang für die Darsteller direkt mit einbezogen. Die Drehbühne verstärkt sinnvoll bestimmte Tanz- und Handlungselemente, ohne der Gefahr einer Überstrapazierung zu erliegen. Komödiantische Elemente werden behutsam und ohne flache Klamotte eingearbeitet, und in der stets gehaltenen Balance zwischen ausgelassener Stimmung und beklemmender Bedrohung gelingen die Nuancen-Wechsel mit bestechender Genauigkeit.
Die Hagener „Cabaret“-Interpretation ist ein denkwürdig reifes Ergebnis, das in der sorgfältigen Vorbereitung aus der Summe zahlreicher Erfolgsbausteine erstellt worden ist. Hier wird weder der Welthit nachgespielt oder aufgewärmt, noch findet eine überschätzte Verfremdung der Vorlage statt. Vielmehr orientiert sich die Einspielung an den Möglichkeiten des vorhandenen Raumes und der Kreativität des Ensembles. Dieses wiederum wird in die Pflicht genommen, sich des schmalen Darstellungsgrates in jedem einzelnen Aufführungsmoment bewusst zu sein, der allein dem unheimlichen (Hoffnungs)-Tanz auf dem (Nazi)-Vulkan gerecht werden kann.
In der Schluss-Szene tragen alle Beteiligten die Schatten des Mordens und des Todes in den unheilvoll geschminkten Gesichtern. Ein Bild, das betroffene Nachhaltigkeit transportiert und das Publikum erst langsam aus seinem Bann entlässt. Dann aber brandet der Beifall umso stürmischer auf.